Auf den Jugoslawien-Roman hat die Lesergemeinde lange warten müssen. Jetzt ist er da, auch auf Deutsch, geschrieben von einem Ungarn aus der Vojvodina, der schon zu Beginn des Krieges sein Land verließ, das es nun nicht mehr gab, und nach Ungarn ging. Für alle Ewigkeit (der ungarische Titel bedeutet etwa "Grenzfestung") ist zugleich auch mehr als der Jugoslawien-Roman: eine Geschichte voller unsentimentaler, unsicherer, aber schöner Liebesgeschichten und das Portrait des jungen Mannes Livius, das auch Fremde für diese Weltgegend und ihre Menschen einnehmen kann. Ein großes Buch.
Der junge Livius lebt in einem Dorf in der Vojvodina und lässt sich dort subtil und erfolgreich mit einem Nachbarmädchen verkuppeln. Zugleich ahnt er, dass ihn die verbotene Liebe zu dessen Schwester noch viel glücklicher machen könnte - eine alte, banale, aber sehr schön erzählte Geschichte. Was er werden will, weiß Livius noch nicht. Erst einmal wird er zur Armee eingezogen. Kurz vor seiner Entlassung wird er zu seinem Schrecken noch einmal abkommandiert und landet auf einer einsamen Garnison irgendwo in den Bergen, der Grenzfestung, die sich schon bald als so rätselhaft erweist wie ein Kafka´sches Schloss. Militärisch ist hier nur die Langeweile und Sinnlosigkeit; die Soldaten, die dort leben, legen ein ganz unmilitärisches Verhalten an den Tag. Sie tragen alle Namen, die sie verschiedenen jugoslawischen Völkern zuordnen.
Alles ist in dieser geheimnisvollen Burg seltsam aus der Zeit herausgehoben. Niemand kriegt Post, Besuch oder Ausgang gibt es nicht. Man lebt mit seinen Erinnerungen, die einem plötzlich gegenwärtig werden können. Niemand weiß, was die Soldaten der Garnison, die alle schon seit Ewigkeiten hier sind, eigentlich zu tun haben. Man schiebt Wache, aber es gibt nirgendwo einen Feind. Dafür aber eine exzellente Küche, die man in einem teuren Restaurant erwarten würde, aber sicher in keiner Kantine der Jugoslawischen Volksarmee.
Livius lässt das Geheimnis der Burg keine Ruhe, obwohl auch er sich mit der Zeit von der allgemeinen Schläfrigkeit einlullen lässt, keine Fluchtversuche unternimmt und sich immer mehr mit seinen Erinnerungen zufrieden gibt. Bei der Suche nach dem Geheimnis ereignet sich dann aber doch so allerhand, und zeitweise wird es sogar ein bisschen spannend.
Manches am Leben auf der Festung erinnert an die Sinnlosigkeit von militärischem Alltag und dem ihm verwandten sozialistischen Wirtschaftsleben und ist dabei sehr komisch. Etwa dass eine unsichtbare Kraft die Versorgung mit Lebensmitteln sicherstellt, über deren Ziele und Motive nichts verraten wird, erscheint nachvollziehbar für jeden, der in Titos Jugoslawien aufgewachsen ist. Das System beruhte nicht auf Befehl und Gehorsam. Man richtete sich irgendwie in der allgemeinen Irrationalität ein, war nicht zu frech, aber auch nicht zu unterwürfig, maß ständig aus, was man sich herausnehmen konnte. Titel zählten nichts, auch keine Parteiabzeichen. "Meine Meinung ist", sagt der Hauptmann, "dass es absolut keinen Sinn macht, die Leute aufzuscheuchen, wenn wir hier so gut miteinander auskommen; niemand stört niemanden, es hat sich eine natürliche Ordnung herausgebildet, im edelsten Sinne des Wortes, wie wenn man unterschiedlich geformte Bausteine in einen Sack packt und mit der Zeit jeder seinen Platz neben dem anderen findet."
Trotzdem ist die Grenzfestung nicht das ganze Jugoslawien. Etwas bleibt außerhalb des "Sacks". Sonst gäbe es ja keinen Krieg, wie er zu Anfang des Romans irgendwie schon in der Ferne grollt und der am Ende dann wirklich ausbricht. Der Krieg kommt aus dem Reich, in dem die Erinnerungen spielen. Im sinnlosen, von außen irgendwie organisierten, leidlich versorgten Leben wächst beständig auch das Andere. Die Erinnerungen sind Material, das in das gleichförmige, friedliche Dasein in der Garnison hineingezogen wird, aber sich doch nie völlig hineinziehen lässt. Warum es Krieg gibt, erfährt man nicht - der Krieg kommt von unbekannter Hand, genau wie die Schweinebrüstchen und Trüffel in der Küche der Grenzfestung. Schon gar nichts zu tun hat er mit "Kulturen", wie man außerhalb Jugoslawiens gern meinte. Murat und Sljoka, der Muslim und der Albaner, Prudonoff, der Bulgare, und Matej, der Slowene, könnten alle ohne weiteres den Namen des jeweils anderen tragen.
Für alle Ewigkeit wird man dreimal lesen müssen und auch wollen, wenn es einen einmal gepackt hat. Immer wieder gibt es etwas Neues zum Entschlüsseln, und bei jeder Lektüre wird schon Entschlüsseltes plötzlich in einem anderen Licht erscheinen, eins verweist auf das andere, und so kommen immer wieder neue, überraschende Erkenntnisse über das untergegangene Land zustande. In Begriffe lässt sich das Erfahrene nicht übersetzen. An den wenigen Stellen, wo der Romanautor aus der Zauberwelt hinaustritt und politisch konkret wird, klingt es prompt ein bisschen banal. Die einzige "politische" Szene zeigt die zerschlagene Schaufensterscheibe des albanischen Bäckers Adem in dem Dorf in der Vojvodina. Da lernt Livius, "dass Geschichte nicht ausschließlich die vergilbten Seiten alter staubiger Bücher bedeutet ..., sondern dass sie, wenn sie gerade Lust bekommt, manchmal in der Gegenwart sehr lebendig wird." Das hat man durchaus schon gehört und gelesen, und es beantwortet wenig. Ist "Geschichte" die Täterin? Und wann und warum bekommt sie "Lust", in der Gegenwart lebendig zu werden? Und was tut sie, wenn sie gerade nicht "lebendig" ist? Wer das herauskriegen will, muss zurück in den Roman. Irgendwo im Nachdenken über die Handlung wird die Wahrheit sich finden.
Wer nun auch wissen will wo, muss zu Ende lesen, denn am Ende löst das große Rätsel sich auf. Wir erfahren, was es mit der geheimnisvollen Festung auf sich hat, wozu sie dient und wen sie verteidigt. Und wer erfahren will, was das alles für Jugoslawien und gar für uns bedeutet, wird dann wieder und wieder noch einmal von vorne anfangen müssen.
Róbert Hász: Für alle Ewigkeit. Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Kunze. Klett-Cotta, Stuttgart 2006, 288 S., 19,50 EUR
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