Erst herrscht Krieg, dann kommt die NATO mit ihren Truppen und es kehrt wieder Friede ein: Das war die Lehre der neunziger Jahre. Sie hielt über den Kosovo-Krieg hinaus noch bis zum Einmarsch der Amerikaner undeiniger ihrer Verbündeten in den Irak. Vor genau 20 Jahren, im Februar 1994, hat sich das atlantische Bündnis zum ersten Mal welt-polizeilich engagiert. Der Erfolg der Operation in Bosnien-Herzegowina ist heute weitgehend unumstritten. Zu Unrecht.
Seit 1991 schon herrschte Bürgerkrieg im früheren Jugoslawien. Am Anfang hatte es noch geheißen, nun schlage „die Stunde Europas“. Die Gemeinschaft, ganz im Hochgefühl ihrer bevorstehenden Vertiefung, hatte eine Außenminister-Troika entsandt und gehofft, die streitenden Parteien mit der damals angesagten Versöhnungs- und Vereinigungsrhetorik zum Einlenken zu bewegen. Die Mission schlug gründlich fehl. Wenigstens hatten die Vereinten Nationen in Kroatien einen Waffenstillstand erreicht, der dann von Januar 1992 an im Großen und Ganzen galt.
Den Zerfall Jugoslawiens hielt aber auch die UNO nicht auf. Seit Herbst 1991 kam es auch in der zentralen Republik Bosnien-Herzegowina zu Gefechten, die das Geschehen in Kroatien an Heftigkeit und Brutalität noch übertrafen. Der UN-Sicherheitsrat war ratlos. Jede Macht legte sich ihre eigene Analyse zurecht und ließ dieser oder jener Kriegspartei ein wenig Sympathie zukommen. Waffenembargo und Wirtschaftssanktionen – die pazifistischen Mittel der Intervention – trieben, statt die Konfrontation zu beenden, die Bevölkerung nur fester in die Arme der inzwischen vier kriegführenden Parteien. Die Amerikaner blieben desinteressiert. In Washington regierte George Bush senior mit einer Equipe aus strengen außenpolitischen Realisten. Nach ihrer Doktrin lag Bosnien außerhalb der amerikanischen Interessensphäre.
Den Umschwung brachte die Wahl Bill Clintons zum Präsidenten, der Anfang 1993 sein Amt antrat. Im Sicherheitsrat machten die Clinton-Leute Dampf für eine Flugverbotszone über Bosnien – nicht weil Luftangriffe in diesem Krieg eine besondere Rolle spielten, sondern weil so die NATO ins Spiel kam: Die Zone gehörte überwacht. Leisten konnte das nur die Allianz mit ihrem AWACS-System der Luftaufklärung. Vor allem in Deutschland wurde kontrovers über „Out-of-area-Einsätze“ des Bündnisses diskutiert, in die Debatte mischte sich die Unsicherheit über die Rolle des wiedervereinigten Nationalstaats.
Rennen wie die Hasen
Am 5. Februar 1994 explodierte eine Granate auf einem Marktplatz in Sarajevo; 68 Menschen starben, mehr als hundert wurden verletzt. Die bosnische Hauptstadt lag damals schon seit fast zwei Jahren nahezu täglich unter Beschuss. Rund um das Zentrum hatte das Romanija-Korps der bosnisch-serbischen Armee Stellung bezogen. Heckenschützen quartierten sich in Hochhäusern ein und nahmen gezielt Zivilisten aufs Korn. Wo immer Häuserblöcke durch Straßen in Nord-Süd-Richtung durchbrochen waren, mussten die Bewohner von Sarajevo in frivolem Wettlauf mit den Scharfschützen rennen wie die Hasen.
Artillerie traf dagegen vor allem die Außenbezirke der Stadt. Als dann die Granate bei den Gemüseverkäufern an der Markthalle einschlug, erklärte die bosnisch-serbische Führung sogleich, diese sei von den Muslimen selbst abgeschossen worden. Ein erster Bericht der UN-Mission untermauerte die Behauptung. Er beruhte allerdings auf einem Rechenfehler und wurde alsbald korrigiert. Gründlich untersucht wurde der Fall noch einmal vor Gericht in Den Haag. Das Tribunal kam in zwei Instanzen zu dem Schluss, dass die Granate von serbisch gehaltenem Territorium abgefeuert wurde.
Die Situation für die erste Militärintervention der NATO-Geschichte war da. Tags drauf, am 6. Februar, drohte UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali den bosnischen Serben mit Luftschlägen. Unter dem Eindruck der Drohung zog sich die Belagerungsarmee wie verlangt um 20 Kilometer zurück. Die Intervention war abgeblasen. Nur drei Wochen später aber schoss die NATO dann doch zum ersten Mal: US-Abfangjäger stellten sechs serbische Jets bei Banja Luka und holten vier davon vom Himmel. Der Einsatz – aus eher nichtigem Anlass – war von der UN-Resolution zur Einrichtung einer Flugverbotszone gedeckt. Doch hatte es keine „enge Abstimmung“ mit der UNO gegeben, wie in der Resolution gefordert. Die neue Administration in Washington zeigte aller Welt und besonders dem UN-Hauptquartier, wer in Jugoslawien von jetzt an das Gesetz des Handelns bestimmte.
Die Amerikaner nutzten die Drohkulisse für eine große diplomatische Intervention – das „end game“, wie es Clintons Sicherheitsberater Tony Lake später nennen sollte. Am Tag nach dem ersten NATO-Luftschlag der Geschichte einigten sich die bis dato verfeindeten Bosniaken und Kroaten auf Druck der USA in Washington auf eine Allianz gegen die Serben und auf die Umrisse einer Nachkriegsordnung, nach der das Land in Kantone aufgeteilt werden sollte. Eine „Kontaktgruppe“ aus Amerikanern, Briten, Franzosen, Deutschen und Russen wurde gebildet, um sicherzustellen, dass niemand querschoss.
Feindliche Armee als Friedensbringer
Kern der Strategie war die Aufrüstung der bis dahin unterlegenen Bosniaken und Kroaten durch den Westen. Dies widersprach sowohl dem Waffenembargo als auch dem Flugverbot, das die NATO gerade erst gewaltsam durchgesetzt hatte – US-Maschinen landeten nachts mit Waffen an Bord auf gesperrten bosnischen Flughäfen. Boutros-Ghali fürchtete um die Sicherheit seiner Blauhelme, und so hielten sich die Amerikaner mit ihren illegalen Waffenlieferungen lieber an den Untergeneralsekretär für Missionen, einen Ghanaer. Als der Ägypter sich 1996 um eine zweite Amtszeit bewarb, legte Washington sein Veto ein. An seine Stelle trat der Ghanaer: Es war Kofi Annan.
Schon im Sommer 1994 war die Nachkriegsordnung für Bosnien fast besiegelt: Das Land sollte de facto zwischen den Volksgruppen aufgeteilt, de jure aber als Völkerrechtssubjekt erhalten bleiben. Die Serben, die 70 Prozent des Territoriums hielten, sollten sich auf kompakte 49 Prozent zurückziehen, die restlichen 51 Prozent der „Föderation“ aus Bosniaken und Kroaten zufallen. Damit der Plan Wirklichkeit wurde, musste ein großer Teil der Bevölkerung umgesiedelt werden. Betroffen waren besonders die Bosniaken in den ostbosnischen Kleinstädten Goražde, Srebrenica und Žepa sowie die Serben im Westen um Grahovo und Drvar. Dem neuen US-Vizeaußenminister Richard Holbrooke fiel die Aufgabe zu, den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević für den Plan zu gewinnen. Und das gelang.
Jetzt musste nur noch die betroffene Bevölkerung dazu bewegt werden, ihr Land zu räumen. Keine Kriegspartei – weder die bosniakische unter Präsident Alija Izetbegović noch die serbische unter Radovan Karadžić – verfügte über die Autorität, die eigenen Leute zur Aufgabe ihrer Heimat zu zwingen. So erledigte den Job die je andere Armee: Serben marschierten in die ostbosnischen Enklaven ein, nachdem sich die bosnische Armee wie von unsichtbarer Hand gelenkt zurückgezogen hatte. Aus Westbosnien zogen die Serben kampflos ab, und kroatische Truppen rückten ein. Die verängstigte Bevölkerung folgte hier wie dort den Truppen der eigenen Seite.
Die feindliche Armee als Friedensbringer: Es war ein perfekter Plan. Aber wie alle großen Intrigen führte er in die Katastrophe. Der bosnisch-serbische Oberkommandierende Ratko Mladić lieh seine Truppen dem fremden Begehren gern, verband deren Einsatz aber mit eigenen Absichten. Statt, wie geplant, die Muslime aus Ostbosnien bloß zu vertreiben, ließ er rund um Srebrenica an die 8.000 entwaffnete Männer ermorden: Die Gräueltat sollte verhindern, dass ein vereinigtes Bosnien je wieder möglich würde. Die Rechnung ging auf; auch nach bald zwei Jahrzehnten ist keine Versöhnung in Sicht. Wenn sich aus dem bosnischen „Endspiel“ etwas lernen lässt, dann nur, dass man mit dem Teufel keinen Pakt eingeht.
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