Die Geschichte, das sind lauter Geschichten. Die von Reginas unglücklichem Vater beispielsweise. Als im Jahre 1879 zu Trebinje in der Herzegowina Rafo Sikiric geboren wurde, war dessen Mutter fast 62 Jahre alt. Die Kunde von dem medizinischen Wunder drang bis nach Wien zum Kaiser, dem neuen Landesherrn, der die Patenschaft übernahm, zum Geburtstag Geschenke schickte und dem Kinde die besten Schulen versprach. So kam Rafo aus Trebinje auf das Erste Gymnasium von Sarajewo, wo ihn die arroganten Bürgerkinder furchtbar mobbten. Als er aber in den Ferien nach Hause kam, fragten die Trebinjer den Knaben "alles, was sie je bedrängt hatte und worauf sie keine Antwort fanden", zum Beispiel: Gibt es mehr Ameisen oder mehr Chinesen? Rafo hielt den sozialen Spagat nicht aus, verschwand und wurde "wegen Missachtung der Disziplin und unentschuldigten Fehlens der Schule verwiesen", was wiederum das Ansehen des Kaisers in Trebinje nachhaltig beschädigte - und wir Leser ahnen schon, dass es mit Österreichs Herrschaft in diesem Teil der Welt kein gutes Ende nehmen wird.
So verschlungen, tragisch, komisch geht es zwischen oben und unten, hier und dort immer wieder zu in dem turbulenten Roman des kroatischen Autors Miljenko Jergovic´. Von den 613 Seiten ist keine auch nur ein bisschen langweilig. Mehr als fünfzig Figuren, alle aus dem Kreis der Familie von Regina Delavale, erleben die kuriosesten Geschichten, alle meisterlich erzählt, mal knapp, mal üppig, und alle so reich, dass ein talentierter, aber weniger phantasievoller Schriftsteller aus jeder von ihnen mühelos einen eigenen Roman machen könnte. Nie kommt man als Leser durcheinander, weil jede Geschichte alsbald ihr Ende findet und man im ganzen Roman nur wenige Fäden in der Hand halten muss. Wem vor Geschichten irgendwann der Kopf brummt, der kann sich an die vielen lebensklugen Gedanken und belastbaren Sinnsprüche halten, die der Autor wie Paranthesen in seinen Erzählfluss einstreut - wie die "wenn die Mutterschaft nicht etwas ist, mit dem die Biologie die menschliche Vernunft narrt", man sie "vielleicht an der Angst" erkennt. Wer ein wenig über dergleichen nachsinnt, wird dann für seine Anstrengung gleich wieder mit einer Erzählung belohnt.
Dennoch ist Das Walnusshaus durchaus ein runder Roman, und zwar ein kunstvoll komponierter. Er erzählt (jetzt auch in einem präzisen, unaufdringlichen, aber kraftvollen Deutsch) das Leben von Regina Delavale, 1905-2002, einer Frau aus Dubrovnik, und derer, die mit ihr verwandt sind und ihr sonst intensiver begegnen. Die Geschichte beginnt mit Reginas Tod in rasender Altersdemenz, einem terminalen Rachefeldzug gegen die Welt, der die Tochter und vor allem den Arzt, der ihr Leben mit einer gnädigen Injektion beendet, noch mit ins Verderben zu reißen droht. Sie endet mit Reginas Geburt, zu der ein alter Holzschnitzer ihr im Auftrag des Großvaters ein Puppenhaus aus Nussbaum anfertigt. Kapitel XV ist das erste und Kapitel I das letzte: Die Chronologie ist, wie sich zeigt, umkehrbar, ohne dass man der Geschichte Gewalt antun muss. Kausalitäten sind sowieso zweifelhaft. Die Zeit verstreicht nicht, sondern kehrt wie Sommer und Winter immer wieder - eine Grundtatsache der orientalischen Welterfahrung.
Das schützende Haus und der anspruchslose Walnussbaum der Herzegowina entwirft Jergovic´ als Massensymbole dieser rauen Gesellschaft, in der seine Geschichten spielen. Es ist ein Roman über die Gegend, die von Dubrovnik über Trebinje, Mostar, Konjic bis nach Sarajewo reicht, im Süden bis in die Bucht von Kotor in Montenegro und ihre Tentakeln bis nach Zagreb und Wien ausstreckt. Die Helden sind Bürger und Bauern, viele von der rustikalen Herzlichkeit, mit der auch der Autor seine Figuren schnitzt. Das Nationale, das auf dem Balkan ja angeblich so wichtig ist, kommt - ganz anders etwa als bei Bosniens großem Nationalepiker Ivo Andric - nur als flüchtige Eigenschaft vor, die man gewinnen und verlieren kann und im richtigen Moment erwerben oder abstoßen sollte.
Die Helden der Geschichten im Walnusshaus sind nicht serbisch und nicht kroatisch, nicht gut und nicht böse, und wenn sie Absichten haben, dann werden sie alle auf eine überraschende Art enttäuscht. Sie stolpern und purzeln durch das lange 20. Jahrhundert, hin- und hergeworfen von ironischen Zufällen, aber immer wieder auch von fernen, fremden Gewalten, die das Leben hier meistens auf absurde Art beeinflussen. Reginas Brüder heißen "Dovani" und "Duzepe", tragen italienische Namen in serbisierter Schreibweise, und auch der Familienname Delavale weist über die Adria. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges endet der eine als "Tschetnik" und der andere als "Ustascha", ohne dass einer von ihnen zu seinem Schicksal nachvollziehbar beigetragen hätte. So geht es eben zu in diesem wilden Leben.
In seinem Film Babel zeigt der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu die Erfahrungswelt des globalisierten 21. Jahrhunderts: Dass hier einer stirbt, wenn in China ein Sack Reis umfällt. Im Walnusshaus dagegen gelten die Gesetze des 20. Jahrhunderts. Es gibt Zentren und es gibt die Peripherie, und die ist hier. Dort ist die Welt der Ideen, der großen Absichten, und hier werden sie ausgetragen - als Tragödie und als Farce. Begreifen lässt das Geschehen sich aus sich selbst heraus nicht. "Nur wenn sich die Geschichte vom Großen im Kleinen hätte umkehren lassen", fasst der Erzähler sein Geschichtsbild zusammen, "hätte unsere Geschichte anders ausgesehen und würde denen, die sie eines Tages studieren, normaler erscheinen."
Das Leben ist schön, und wenn nicht, dann ist der mal grässliche, mal komische Fatalismus der Geschichte daran schuld: Das ist das Epos nicht des neuen Nationalstaats Kroatien, sondern des alten Jugoslawien, dieses tapfer hin- und herschaukelnden Schiffchens zwischen sozialistischer Scylla und kapitalistischer Charybdis. Es ist allenfalls noch das Epos Bosniens, des Landes, in dessen Hauptstadt Sarajewo der Kroate MiljenkoJergovic´ 1966 geboren wurde und die er, im Krieg 1993, verließ. In Kroatien, in der Welt der Absichten, entwickelte sich Jergovic´ zu einem glänzenden Schriftsteller und bissigen Essayisten, der dem Staat der Tudjman-Ära nichts schenkte. Versöhnt hat er sich als Exponent der Bosnier mit der neuen Welt und besonders dem "lächerlichen Staat Kroatien" nie. Im vorigen Jahr trat er auch aus dem kroatischen Schriftstellerverband aus, von dem er vergeblich gehofft habe, dass wenigstens er eine neue Haltung "zum Anderen, zur Minderheit" entwickeln würde. Eine heillose Hoffnung; wie Regina Delavale wird doch keiner leben, wenn er nicht muss.
Miljenko Jergovic´ Das Walnusshaus. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling Co., Frankfurt am Main 2008, 613 S., 24,90 EUR
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