Der Geruch der Armut

Rassismus Roma in Osteuropa werden als Volk wahrgenommen, als Minderheit diskriminiert und geächtet. Minderheitenpolitik allein wird ihren nicht helfen, so gut die auch gemeint ist
Ausgabe 13/2013
Der Geruch der Armut

Foto: Andrei Pungovschi / AFP

Zu jemandem „du stinkst“ zu sagen, das ist eine der schlimmsten persönlichsten Verletzungen überhaupt. Wenn ein sechsjähriges Kind so etwas von einer Lehrerin hört, dürfte das reichen, ihm die Lust am Schulgang dauerhaft auszutreiben. „Wissen Sie“, sagte mir eine slowakische Pädagogin einmal, „mir persönlich würde es ja nichts ausmachen, Roma-Kinder zu unterrichten. Aber mein Mann, der hat so eine feine Nase.“ Ein Satz von wohl überlegter Gehässigkeit; wer kleine Kinder so gemein beleidigt, wird auch im Klassenzimmer Mittel und Wege finden, die nicht genehmen Schüler vor den anderen bloßzustellen und sie so wegzuekeln. Mobbing ist tatsächlich einer der wichtigsten Gründe für die viel beklagte Schul-Abstinenz von Roma-Kindern in manchen Ländern Osteuropas.

Dass die Geschichte eine andere Seite haben könnte, habe ich dann in der Müllsiedlung von Pata-Rat bei Cluj in Rumänien gelernt. Wir sprachen allgemein über Schulbesuch, und ich berichtete, noch voller Empörung, von den beleidigenden Bemerkungen der Lehrerin in der Slowakei. Elena, meine Gesprächspartnerin, schien meine Empörung nicht spontan zu teilen und schwieg erst einmal. Nach einer Weile sagte sie dann: „Wir kriegen hier in unseren Hütten die Kleider nicht trocken, besonders im Winter nicht. Waschen können wir sie am Brunnen, aber trocknen können wir sie nicht. Für die Frauen hier ist das überhaupt das Schlimmste. Und wenn ich den Kindern feuchte Sachen anziehe, dann werden sie krank.“ Die Leute von Pata-Rat haben immerhin Zugang zu einer Kleiderkammer, wo abgetragene Sachen – immer muffig und manchmal nur Lumpen – verteilt werden, und können sich dort immer wieder neu einkleiden, wenn sie schon nicht waschen können. Aber die in den Hütten am Rande der Dörfer haben keinen Zugang zu derartiger Hilfe.

Roma sind – nicht nur in Osteuropa – zwei Übeln zugleich ausgesetzt: der Verachtung ihrer Mitmenschen und einer überkommenen Armut. Was gegen das eine Übel hilft, hilft nicht nur nicht gegen das andere, sondern befördert es zuweilen sogar. Wer die Roma gegen die Verachtung in Schutz nimmt, wird sagen: Geruch ist eine Sinneswahrnehmung, die man nicht messen kann. Also hört auf, über etwas zu reden, das ihr nicht belegen könnt! An dem Muster orientieren sich die Gutwilligen, wenn sie die Randgruppe gegen die Hetze radikaler Rechter verteidigen. Woher wollt ihr wissen, dass Roma oft stehlen? – fragen wir zum Beispiel, wenn uns jemand mit dem Vorurteil konfrontiert. Keine Kriminalstatistik weist ethnische Gruppen gesondert aus! Roma – so wissen wir – sind nicht besser und nicht schlechter als andere, sie sind Menschen wie alle anderen auch.

Romantische Phase

In diesem Satz, so richtig er ist, sind allerdings die Bedingungen ausgeklammert, unter denen in Rumänien, Bulgarien, in der Slowakei oder in Serbien die meisten Roma leben müssen. Wer seine Kleider nicht waschen kann, fängt tatsächlich irgendwann zu riechen an. Es ist der Geruch der Armut, nicht der Geruch der Roma. In allen Slums auf der Welt und um sie herum gibt es auch Kriminalität. Osteuropäische Roma-Quartiere machen da nur insofern eine Ausnahme, als die Gewaltkriminalität wegen der intakten Familienbindungen dort wesentlich geringer ist als in südafrikanischen Townships oder brasilianischen Favelas. Die rassistischen Hetzer hätten gern eine Roma-Kriminalstatistik zur Hand, um beweisen zu können, dass „die Zigeuner“ viel häufiger stehlen als zum Beispiel „die Deutschen“. Die bekommen sie nicht, und das ist auch gut so. Aber dass „die Deutschen“ für „die Roma“ eine angemessene Vergleichsgruppe darstellen, zieht niemand in Zweifel.

Roma sind ein „Volk“, eine ethnische Gruppe, aber sie sind nicht nur das. In der Realität und auch im Begriff, den wir und sie sich davon machen, sind sie zugleich eine soziale Gruppe, eine Schicht. In der Geschichte der vergangenen 250 Jahre waren beide Aspekte immer präsent, einmal war der eine stärker, dann wieder der andere. Die Aufklärer konnten und können mit wabernden Wesenheiten wie einem „Volk“ wenig anfangen, betonten die Begabung jedes Menschen zur Vernunft und unterzogen die Zigeuner ungeachtet ihrer ethnischen Besonderheit einer strengen Volkserziehung. Die Romantiker dagegen betonten und betonen deren Andersartigkeit – den Volkscharakter. Manche Vertreter dieser Denkungsart loben den (übrigens steigenden) Analphabetismus von südosteuropäischen Roma folgerichtig als „schriftlose Kultur“. Was anders ist, denken sie, kann nicht schlecht sein.

Wir leben, wenn es um Roma geht, in ganz Europa seit dem Einsetzen der Roma-Nationalbewegung vor über 40 Jahren in einer romantischen Phase. Wir begreifen Roma als Volk und wenden gegen ihre Misere alle Mittel der Volksgruppenpolitik an: Anerkennung als nationale Minderheit, Unterstützung von Selbstorganisation und Selbstvertretung, Ächtung von Diskriminierung. Dass Roma zugleich aber fast immer arm oder unmittelbar der Armut entkommen sind, bleibt dabei außer Acht. Minderheitenpolitik hilft nicht gegen Armut. Wer nach Awareness-Raising und mithilfe einer Antidiskriminierungs-Behörde trotz – oder gerade wegen – seiner ethnischen Zugehörigkeit einen Arbeitsplatz ergattern würde, bekommt dann doch keinen, weil es eben keinen gibt.

Quoten an Universitäten nützen in Südosteuropa einer kleinen Gruppe assimilierter Roma, deren Eltern sich oft schon gar nicht mehr als solche verstanden haben. Armut ist in dieser Logik ein Problem zweiter Ordnung. Wenn wir überhaupt von ihr sprechen, dann deuten wir sie als Folge der ethnischen Diskriminierung.

Bis ins 20. Jahrhundert wurden Roma nur von einer gebildeten, romantisch gestimmten Minderheit als „Volk“ betrachtet und in ihrer „Eigenart“ entsprechend respektiert. Die Mehrheit nahm sie einfach als diebisches, nichtsnutziges, umherziehendes Gesindel wahr.

Die Nazis führten mit der Internierung, Deportation und Vernichtung der „Zigeuner“ beide Sichtweisen auf perfide Weise zusammen. Und die deutsche Gerichtsbarkeit tat sich nach dem Krieg lange schwer, beides wieder aufzudröseln. Erst um 1970 setzte sich die ethnische Sicht ganz und gar durch. Gegenüber der Zeit zuvor war das ein Fortschritt.

Spätestens seit der Zeitenwende von 1990 aber wirkt sich die Vereinfachung negativ aus. Mit den Mitteln der Minderheitenpolitik kann man Armut eben nicht bekämpfen. Selbstorganisation und Selbstvertretung oder gar das Engineering einer sogenannten Roma-Elite helfen nicht. Es kann manchmal sogar schaden. Wenn die Roma ein Volk sein wollen, liest man neuerdings in den Chaträumen, dann sollen sie ihre Verhältnisse gefälligst untereinander regeln. Niemand käme auf die Idee, die Hartz-IV-Empfänger eine Vertretung bestimmen und ihre Verhältnisse untereinander regeln zu lassen. Wenn Empowerment helfen soll, muss es wenigstens ein Ziel geben, das sich mit Power erreichen lässt.

Integration ist kein solches Ziel. Minderheitenvertreter eignen sich deshalb auch schlecht als Kämpfer gegen die Armut. Autonomie, wie manche in Südosteuropa sie verlangen, führt exakt in die falsche Richtung. Aber selbst wenn diese Protagonisten nur auf Gleichbehandlung insistieren und gegen Herabwürdigung zu Felde ziehen, werden sie immer versucht sein, die Armut und deren Folgen herunterzuspielen. Eine ethnische Diskriminierung ist umso schlimmer, je weniger sie sich begründen lässt, und am tiefsten treffen Ausgrenzung und Verachtung immer diejenigen, die sich in den bürgerlichen Verhältnissen am wenigsten erwarten würden. Am unteren Rande der Gesellschaft dagegen kumulieren die Übel. Wer nicht weiß, wie er sich kleiden oder wo er sein Wasser herholen soll, hat schlimmere Problem als die scheelen Blicke der Glücklichen.

Scheele Blicke

Die „anderen Bilder“, die Geschichten von Roma, die so gar nicht dem Klischee entsprechen, sind deshalb ambivalent. Jane Simon (33) kommt aus einer analphabetischen Roma-Familie. Sie hat es geschafft, sich davon zu lösen, und sagt in einem Roma-freundlichen Artikel der Bild-Zeitung: „Natürlich werfen die rumänischen Bettelbanden ein schlechtes Licht auf uns alle!“ Die Erfolgreichen unter den Roma zeigen der Mehrheitsgesellschaft: Seht her, wir sind wie ihr! Gebildet, gepflegt, erfolgreich, begütert vielleicht, eloquent. Die Mehrheit nimmt das zu gern auf und gibt zurück: Es geht ja, wenn man sich genügend anstrengt. „Bildung ist der Schlüssel zur Lösung der Probleme“, lautet das politische Mantra dazu. Aber Armut frisst sogar Bildung auf. Eine Investition in Bildung muss man sich erst einmal leisten können. Wer nicht hoffen kann, für eine jahrzehntelange Schul- und Universitätskarriere mit einem guten Leben belohnt zu werden, der wird in Bildung auch nicht investieren.

Wenn wir von den Roma nur als von einem Volk sprechen, ersparen wir es uns, von der Armut überhaupt zu reden. In Umfragen wird regelmäßig festgestellt, dass zwischen 20 und 30 Prozent der Deutschen keine Türken oder keine Afrikaner als Nachbarn haben wollen, aber um die 60 Prozent keine Roma. Wer eine Gruppe, die zu 90 Prozent aus Armen und Arbeitslosen besteht, mit einer verfassten, geschichteten Nation vergleicht, setzt sie einer unfairen und unsinnigen Konkurrenz aus. 20 bis 30 Prozent der Deutschen sind offenbar Rassisten, aber 60 Prozent haben das Potenzial, es zu werden. Am Ende werden die Leute sagen: Die Roma mögen ja ein Volk sein. Aber dann sind sie ein minderwertiges.

Wer von der Armut nicht reden will, soll von der Diskriminierung schweigen.

Norbert Mappes-Niediek hat zuletzt für den Freitag über Folgen der Eurokrise auf dem Balkan geschrieben

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