Möglicherweise muß die verfehlte Kosovo-Politik ja erst in den völligen Bankrott getrieben werden, bis etwas Neues entstehen kann: Vielleicht müssen NATO-Luftschläge das Desaster wirklich erst komplett machen, bis die Bankrotteure in Washington und Brüssel, London und Bonn ihr Scheitern einsehen. Einstweilen versteckt sich der Rest von Vernunft noch in den Warnungen der Militärs, daß zunächst eine »politische Lösung« her müsse, bevor man an deren militärische Umsetzung denken könne. Im schlimmsten Falle wird dann wohl bald ein Konzept zusammengeschustert werden, das keinen anderen Zweck hat, als den Kritikern einer möglichst raschen Intervention den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nimmt man die Warnung der Generäle wirklich ernst, ist die westliche Diplomatie jetzt stärker gefordert als jemals zuvor seit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens.
Eine politische Lösung für das Kosovo allein kann es gar nicht geben, und das nicht nur, weil sich die Probleme der Albaner und die Ambitionen der UCK auch auf Mazedonien erstrecken. Was aus dem Kosovo wird, berührt den Bestand Jugoslawiens und rührt auch die schon »gelösten« Probleme in Bosnien und Kroatien wieder auf. 1991, als im Westen über den richtigen Umgang mit dem Krieg in Kroatien gestritten wurde, gab es unter den Diplomaten zwei Fraktionen: Die »Anerkennungspartei« wollte den Konflikt durch Internationalisierung beenden; ihr gegenüber standen die Advokaten einer »Gesamtlösung«, die vermeiden wollten, daß mit vollendeter Anerkenunng Kroatiens die Probleme in anderen Republiken bloß um so schärfer würden. Beide hatten damals recht: Die »Gesamtlöser« wurden durch den Gang der Ereignisse bestätigt, aber die »Anerkenner« setzten sich seinerzeit ja nur durch, weil eben niemand das geforderte Gesamtkonzept präsentieren konnte. Wir warten bis heute. Kroatien und Bosnien sind inzwischen »ethnisch gesäubert«; die Probleme wurden nach Süden gedrängt und verdichten sich nun auf engstem Raum im unterentwickelten Serbien. Das Gesamtkonzept ließ sich durch die Summe der schrecklichen Teillösungen eben nicht ersetzen.
Das hört sich abstrakt an, ist aber leider sehr konkret: Solange Milosevic´ in Belgrad regiert, wird ein noch so ausgefeiltes Autonomiekonzept für das Kosovo Papier bleiben; ein Rechtsstatus wie die Autonomie ist eben, wie Belgrads Oppositionsführer Zoran Djindjic´ zu Recht immer wiederholt, nur in einem Rechtsstaat etwas wert. Solange aber das Kosovo-Problem nicht gelöst ist, wird Slobodan Milosevic´ in Belgrad regieren: Nur er ist in diesem Land noch stark genug, radikale Antworten durchzusetzen. Milosevic´ hat nämlich das politische Perpetuum mobile erfunden: Er treibt sich mit seiner Politik selber die Energie zu, die er braucht, um sich am Laufen zu halten. Die Konflikte werden allesamt so groß, daß nur er selber noch die Macht hat, sie zu lösen. Eine demokratische Regierung in Belgrad mit einem entfesselten Kosovo-Konflikt als Morgengabe hätte keine Chance. Ergo: Unter den gegebenen Umständen geht es weder mit noch ohne den Meister aus Belgrad.
Bodentruppen zu schicken und zwischen dem Kosovo und Serbien einfach eine neue Staatsgrenze zu ziehen, wäre militärisch noch das schlüssigste Szenario. Schwer abzuschätzen ist, wie verlustreich es wäre: Daß Milosevic´ nichts dagegen hätte, wenn die NATO ihm das Kosovo-Problem auf diese Weise abnähme, ist bloß eine originelle Spekulation, und man würde den Mann mystifizieren, wenn man meinte, daß er jederzeit frei agierte. Auch Milosevic´ reagiert nur, wenn auch meistens so unverhältnismäßig, daß er als einziger Akteur erscheint. Nach der Logik seiner Herrschaft kann eine Intrige im Generalstab ihn veranlassen, einen großen Krieg zu beginnen.
Politisch hätte der Einsatz von Bodentruppen gegen die Option der Luftschläge immerhin den Vorteil, daß der Westen im neuen Staat vom ersten Tag an das Sagen hätte und die Souveränität über das Kosovo nicht einem Haufen rachsüchtiger Spinner überlassen müßte. Aber ein Problem bliebe übrig, und ein anderes täte sich neu auf: Der Zerfall Jugoslawiens wäre nicht gestoppt, und wenn das Prinzip der Integrität ex-jugoslawischer Republiken verletzt würde, bräche auch Bosnien wieder auseinander. Von den Konsequenzen, die ein so brachialer Eingriff für das Verhältnis zwischen Rußland und Westeuropa und den Bestand der UNO hätte, ist dabei noch gar nicht die Rede.
So wird an der Wiederaufnahme der kläglich geendeten Londoner Jugoslawienkonferenz wohl kein Weg vorbeiführen; sie hätte die Aufgabe, eine tragfähige Neuordnung des ganzen Raumes vorzunehmen. Die Probleme sind vielfältig: Bosnien hat eine unmögliche Verfassung, Jugoslawien ist eine Diktatur und Mazedonien eine Demokratie ohne jeden inneren Zusammenhalt - Albanien wird auch als »Großalbanien« kein stabiler Nationalstaat werden. Für jedes der nationalen Probleme braucht es eine sorgfältig austarierte Lösung, die alle völkerrechtliche Phantasie erfordert: doppelte Staatsbürgerschaft hier, dort aber nicht, international garantierte Rechte für Minderheiten und Nachbarstaaten, abgestufte Souveränitäten, föderative und konföderative Staatsmodelle. Teilnehmen müßten die Kontaktgruppenstaaten sowie die Türkei - Regierungen, Parteien und Minderheitenvertreter aus Kroatien, Bosnien, Jugoslawien, Albanien und Mazedonien und die Anrainer Slowenien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Griechenland. Daß aus der Konferenz kein end- und folgenloses Palaver wird, garantiert das Interesse der NATO-Staaten. Wenn Europa und die USA eine dauernde Verantwortung für die Region akzeptieren, können sie notfalls auch sinnvoll drohen. Die EU könnte die so entstehenden Staatsgebilde sicher nicht gleich zu Mitgliedern machen. Wenigstens aber müßte sie von der Option, den problematischen Raum notfalls auszugrenzen, ein für allemal Abstand nehmen. Das beste Mittel der Selbstverpflichtung wäre die Aufhebung der Visapflicht für ganz Südosteuropa; erst wenn das geschehen ist, sind die Probleme des Balkans wirklich wieder die Probleme Europas. Nur Lösungen in dieser Dimension übersteigen das Maß eines Slobodan Milosevic´.
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