ST. JOHANN IM PONGAU. Elias Canetti hatte in den 1920er Jahren, wie damals wohl die meisten gebildeten Wiener, ständig und überall die Fackel von Karl Kraus im Ohr. Karl Kraus war absolut das Größte. Es muss für die Zuhörer ein inneres Fest gewesen sein, wie dieser schmächtige, etwas verwachsene Mann bei seinen legendären Lesungen Abend für Abend die Autoritäten des Politik-, Publizistik- und Literaturbetriebes in Grund und Boden schlug, wie er ihre Stilblüten aufspießte, ihre geschraubten Sätze zitierte und jedes Wort von ihnen maß an den ewigen, ästhetischen wie ethischen Regeln, als deren Hüter er sich fühlte. Wehe nur den Opfern! Vor allem bestimmte Journalisten hatten bei Kraus nichts zu lachen. Immer und immer wieder bewies ihnen der Rächer des gequälten Wortes ihre Dummheit, ihre Sprachschluderei, ja ihre tiefe moralische Verworfenheit, bis sie zum heimlichen Gespött der ganzen Stadt wurden. War Wien wirklich so schlimm? fragte sich der junge Canetti, angeregt von seiner Frau Veza, einer der wenigen, die dem Spötter nicht verfallen war. Oder war nur Karl Kraus so grausam?
Man weiß es nicht recht. Wie damals dem Zuwanderer Canetti geht es immer noch vielen Deutschen mit einer bedeutenden Sparte der österreichischen Literatur. Der Leser tritt dort ein in eine Welt voller Gemeinheit, Hinterhältigkeit und niedriger Gesinnung, bevölkert von heimlichen Nazis, gewissenlosen Provinzfürsten und bigotten Päderasten. Noch oben auf den schönen Bergbauernhöfen mit den Geranien vor den Fenstern werden, wie wir seit den autobiographischen Romanen des Salzburgers Franz Innerhofer wissen, die Kinderseelen gemordet, und beim Heurigen rechtfertigen die Wiener den Judenmord. Österreich hat immer wieder große apokalyptische Reiter hervorgebracht: Thomas Bernhard, der verfügte, dass seine Stücke in dem verworfenen Land nicht aufgeführt werden dürfen, Elfriede Jelinek, die schon auswandern wollte. Aber wie verhalten sich deren literarische Höllen zum realen Österreich? Elias Canetti hat einmal eines der Journalisten-Scheusale aus den Lesungen des Karl Kraus in natura erlebt und war ganz überrascht, einen vielleicht nicht genialen, aber doch klugen, angenehmen und hinreichend feinfühligen Menschen anzutreffen. Uns geht es ähnlich. Treffen wir Österreicher oder reisen wir gar durchs Land, müssen wir uns wundern, wie nett es dort ist. Oder, wenn wir Leser sind, wie perfekt dort die Fassaden gepflegt werden, wie geschickt die Durchtriebenheit sich als Freundlichkeit, ja als Herzlichkeit tarnt.
Wer dem Paradox in einem so großen Autor wie Thomas Bernhard nachspüren wollte, landete schon nach kurzem Zwischenstopp im realen Österreich bald in den Abgründen von Bernhards Seele. Versuchen wir es woanders - etwa bei dem Schriftsteller O. P. Zier, dem Autor dreier regional erfolgreicher Romane.
Der bekannteste der drei, Himmelfahrt, führt uns in ein bekanntes Szenario: die barocke Hölle von Salzburg. Werner, ein nicht mehr ganz junger Autor, entzieht sich der Umarmung durch den allmächtigen Kulturchef der Landesregierung und wird fortan landesweit gemobbt. Kein Kulturverein lädt ihn zur Lesung, und bei Wettbewerben ergibt es sich, dass er genau einen Tag zu spät geboren ist, um noch daran teilnehmen zu können. Werner lebt in St. Johann im Pongau, ganz wie O. P. Zier - aber in einem fiktiven St. Johann im Pongau natürlich, nicht im realen, was unbedarfte Leser zu falschen Schlüssen verführt hat. Natürlich hat das reale Bundesland Salzburg auch einen mächtigen Kulturchef, der sich böse karikiert fühlen durfte. Werner ist ein Rebell, O. P. Zier auch. Kurz: Sein Werk wurde natürlich als Schlüsselroman gelesen und ist für Salzburger Verhältnisse entsprechend skandalträchtig.
Man ahnt es schon: So schlimm wie seinem Werner ist es O. P. Zier nicht ergangen. Himmelfahrt wurde, anders als vergleichbare Werke, nicht vom Land angekauft, um es an die Pfarrbüchereien zu verteilen. Es steht aber heute doch in jeder Pfarrbücherei. Einmal hat die Geschäftsführerin eines Kulturvereins eine Lesung abgesagt, aus Druck von wo auch immer. Der Landtagspräsident, dem man eingeredet hatte, er müsse sich erkannt fühlen, hatte klagen wollen, es dann aber bleiben lassen. In der einzigen Buchhandlung von St. Johann gehört Himmelfahrt neben den Schulheften zu den bestverkauften Artikeln; es steht nicht im großen Schaufenster, aber doch in der Vitrine an der Ecke der Eingangstür, wo es auch nach Geschäftsschluss jeder sieht. O.P. Zier ist Träger des Kulturpreises der Marktgemeinde St. Johann, und sogar aus dem schlimmen Salzburg hat er eine Auszeichnung bekommen, wenn auch nicht vom Land, so doch von der Arbeiterkammer. Die Salzburger Nachrichten, in Himmelfahrt unter ihrem originalen Titel ein mafiöses Schauderblatt vom Kaliber der Neuen Freien Presse im Werk von Karl Kraus, nannten den Roman eine "frisch-freche Respektlosigkeit wider ängstliches Duckmäusertum", was erwartungsgemäß tantenhaft klingt, aber doch nicht bösartig. Verlegt hat alle drei Werke Otto Müller in Salzburg, ein privater, aber doch staats- und obrigkeitsnaher Verlag, der auch die ersten Gedichte von Thomas Bernhard herausgebracht hat. Und wenn die Honoratioren von St. Johann, allesamt von der christkatholischen ÖVP, dem Rebellen auf der Straße begegnen, grüßen sie ihn freundlich.
Schonzeit, Ziers erster Roman, spielt ebenfalls im Pongau und erzählt die Geschichte eines Paares und von der Desertion des Mannes in der Nazizeit, eng angelehnt an ein reales Schicksal, wie Ziers Romane ihren Stoff überhaupt nicht von weit her holen. Von Schonzeit fühlten sich offenbar ein paar reale Nazis auf den Schlips getreten, vor allem in Uttendorf, dem Heimatort der Protagonisten. Das neueste und bei weitem umfänglichste Werk, Sturmfrei, setzt sich mit den Hierarchien in Betrieben auseinander; Schauplatz ist das Aluminiumwerk in "Meng", das Ziers Heimatort Lend verteufelt ähnlich ist und in dessen Aluminiumwerk der junge O.P. Zier in den siebziger Jahren als Kaufmann gearbeitet hat. Schuljungen in "Meng" pflegen auf dem Ortsschild das M zu überkleben, weil sie Enge dort empfinden - so wie einst in "Lend" am Ende der Welt das L.
So eng die Heimat sein mag, verlassen hat O.P. Zier sie nicht wollen, und das hat, anders als bei Thomas Bernhard, nichts Selbstquälerisches. Die Frau hat halt eine Stelle als Lehrerin, der Sohn seine Freunde, seinen Sportverein - wie das so ist. Zier, der eigentlich Othmar Peter Zierlinger heißt und demnächst 49 wird, lebt in bescheidenen, aber geordneten Verhältnissen und hat von einem Provokateur nichts an sich. Die Umstände, von denen er in seinem literarischen Werk erzählt, beschreibt er, wenn er es mit abstrakten Begriffen tun soll, durchaus milde. Klar müsse Österreich, das kleine Land ohne eigene Sprache, eine eigene Kulturförderung haben, man könne nicht alles dem Markt überlassen. Und dass vom Kleingeist einer Provinzregierung immer auch etwas in die Kulturförderung schwappt, wundert ihn eigentlich auch nicht. Mehr Nazis als in Deutschland gebe es hier wohl nicht. "Österreich besteht nicht nur aus dumpfem Publikum", sagt er. Ziers Leistung war es, den frechen Ton des Wiener Nachrichtenmagazins Profil auch in Salzburg einzuführen. Begonnen hat er mit Dokumentationen für den ORF; der Chef des Salzburger Landesstudios hatte offenbar einen breiten Rücken. Bekannt wurde er mit einer Kritik des Heimatdichters und NS-Mitläufers Karl Heinrich Waggerl, dessen "Geschenkbändchen" er bis dahin "eher als Teil der Souvenir- beziehungsweise Geschenkartikelindustrie" wahrgenommen hatte "denn als literarische Äußerungen".
Nichts Großes, nichts Schicksalhaftes. Müssen Österreichs dunkle Schriftsteller so gewaltig übertreiben, um ihrer langweiligen Umgebung überhaupt etwas Erzählenswertes abzugewinnen? Alles nur ein Verkaufstrick? Wer Thomas Bernhard kennt, wird das nicht ernsthaft annehmen können. Nehmen sie Österreich nur als Metapher für die böse Welt? Vielleicht. Aber warum tun sie es? O.P. Zier zuckt mit den Achseln. Einmal hat er in Hamburg gelesen. Was er zu erzählen hatte, ist den Hörern dort ganz exotisch vorgekommen, wie wenn da vorne einer aus Südamerika säße. O.P. Zier ist nun einmal von hier; hier hat er die Gemeinheit kennen gelernt, die Dummheit, die Intrige. Alles das gibt es überall. Aber hier, wenigstens hier, sollte es das alles nicht geben. Hier liegt auch Seekirchen, Thomas Bernhards Kindheitsparadies, und hier haben sie sich daraus vertreiben lassen müssen.
Vor ihren Augen hat die kleine, heile Welt sich entzaubert. Nicht das dunkle Österreich ist das Besondere, es ist das helle; nirgends wachsen auf den Leichenbergen so schöne Orchideen. Nach dem Krieg war Österreich die andere, die bessere Welt: katholischer, moralischer, bürgerlicher, zugleich aber auch sozialistischer, proletarischer, ein guter Vater, der immer allen gerecht werden wollte und auf jeden Widerspruch mit nachhaltiger Bestürzung reagierte. Othmar Zierlinger hat früh Vater und Mutter verloren. Das Aluminiumwerk, ein sozialer "Dienstgeber" hat ihn "aufgenommen", wie man hier sagt, wenn jemand eingestellt wird. Österreich ist nicht die böse Welt; in seiner Heilsgeschichte hat auch der verlorene Sohn seinen festen Platz. Das Land steht zwischen seinen Bürgern und der sozialen Wildnis jenseits der Grenzen - eine janusköpfige Halböffentlichkeit, nicht mehr ganz drinnen und noch nicht ganz draußen.
St. Johann und das ganze Pongau sind voller deutscher Touristen. Dem Autor gefällt das; die Fremden bringen doch ein bisschen Welt in die Marktgemeinde. Sie sehen nicht, was O.P. Zier sieht. Manchmal kaufen sie seine Bücher. Sie sind herzlich eingeladen, alles gründlich miss zu verstehen.
O. P. Zier: Schonzeit. Roman. Otto Müller, Salzburg 1996, 280 S., 22,- EUR
O. P. Zier: Himmelfahrt. Roman. Otto Müller, Salzburg 1998, 352 S., 22,- EUR
O. P. Zier: Sturmfrei. Roman. Otto Müller, Salzburg 2001, 564 S., 29,- EUR
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