Dass bei ihm jeder nachschaut, der sich mit den dünnen politischen Sprüchlein nicht zufrieden geben will, dass viele bei ihm erfahren wollen, was denn Jugoslawien oder nur Bosnien im Innersten zusammenhielt und dass so mancher Leser inzwischen alle seine Erzählungen auf die nationalen Geheimnisse der Balkanvölker hin absucht - das ist das (nicht ganz unverdiente) Schicksal eines Nationalepikers. Ivo Andric hat diese Rolle auch gar nicht ungern gespielt. Sie korrespondierte gut mit seiner Vergangenheit als Rebell in der österreichisch-ungarischen Monarchie und besser noch mit seinem Dasein als jugoslawischer Diplomat. Wo soll man suchen, wenn nicht bei ihm?
Andric, hoch verdienter Nobelpreisträger des Jahres 1961, war ein Erzähler, kein nationaler Ideologe; seine Geschichten kamen ihm, er suchte sie sich nicht zusammen, und so hat er stets viel mehr erzählt, als er je auf den Begriff hätte bringen können. Manche der 17 Erzählungen, die der österreichische Essayist Karl-Markus Gauß jetzt in einem Sammelband zusammengefasst hat, sind ebenso meisterhaft wie die beiden berühmten Chroniken von Travnik und Visegrad, Wesire und Konsuln und Die Brücke über die Drina. Sie sind alle gut lesbar, glänzend komponiert, satt erzählt und stammen aus verschiedenen Schaffensperioden mit einem gewissen Schwerpunkt in der Grazer Zeit der frühen zwanziger Jahre, als der junge Konsul Ivo Andric die verpasste Promotion nachholen musste. Am schönsten, und deutschen Lesern ganz unbekannt, sind die Persönlichkeits-, Familien- und Milieustudien aus dem bürgerlichen Belgrad und dem Sarajewo der Vorkriegszeit. In Die Autobiografie erzählt Andric von einem verhinderten Schriftsteller, der sein Manuskript an den arrivierten Autor loswerden will. Während der seine nur zu verständliche Abwehr vor sich selbst überzeugend begründet, bricht plötzlich die Erkenntnis über ihn herein, dass er da ein ganzes Leben in der Hand hält, kein Papier. Andric ist ein menschlicher, nicht immer liebevoller, aber immer sehr genauer Beobachter. Als Erzähler ist belehrbar, belehrt dann aber auch selber gern. Er liebt es, seine Überraschungen, seine plötzlichen Lernerfolge zum Kern seiner Geschichten zu machen. In Zeichen erliegt ein verklemmter Belgrader Pädagoge seinem Beziehungswahn und hält sich für den Auserwählten einer bekannten Primadonna. Schön zu lesen ist, wie der Wahn sich anbahnt, aber das wäre die Geschichte schon gewesen. In Familienbild, der süffig erzählten Ehe zwischen einem lieben, schwachen Mann und einem Drachen, hat der junge Andric, wenigstens für den heutigen Geschmack, eine Überdosis Weisheit zugegeben. Die Misshandlung, Protokoll der Verbindung zwischen einem schüchternen Mädchen und einem Schwadroneur, reicht an die gleichzeitigen Erzählungen früher Feministinnen mühelos heran.
Subtil und ergreifend ist auch Die verschlossene Tür, die Titelgeschichte des Sammelbandes. Sie handelt von einer "guten Ehe", die die erste echte Probe nicht übersteht. Andric, eines Jahrgangs mit dem langjährigen Staats- und Parteichef Tito, war für Nachkriegs-Jugoslawien das, was Brecht für die junge DDR und vielleicht anfangs Gottfried Benn für die junge Bundesrepublik war: kein einfacher Parteigänger, aber ein entfernt Verwandter im Geiste, an dem man sich orientieren konnte. Das macht die Lektüre seiner Werke, über deren zeitlose literarische Qualität noch hinaus, für alle interessant, die wissen wollen, was Jugoslawien war und warum es untergegangen ist. Man darf dabei nicht zu direkt suchen. Andric war ein politischer Autor, aber trotz seiner volkspädagogischen Ader kein schreibender Politiker. Nur wenige seiner Geschichten, und zwar die schwächsten, sind Parabeln oder ähneln sich mit ihren allzu klaren Pointen an diesem Genre an - Djordje Djordjevic, die Erzählung von allzu bedachtsamen Beamten, der dann über einen Pflasterstein stolpert. Auch die bedrückende Geschichte vom jüdischen Schankwirt Mento Papo und seinem kroatischen Mörder lässt sich anderswo tiefer, besser empfunden und reflektiert, nachlesen.
Der mit Abstand bekannteste Text der Sammlung ist der Brief aus dem Jahre 1920, die Geschichte eines jungen jüdischen Arztes, der nach dem Ersten Weltkrieg aus seiner Geburtsstadt Sarajewo verschwindet und seine "Flucht aus Bosnien" in einem Brief an seinen Freund begründet. Der junge Arzt, Max Löwenfeld, breitet eine ausführliche These vom atavistischen, endemischen "Hass" aus, der in diesem Land "als selbstständige Kraft auftritt und in sich selbst ein Ziel findet". Andrics Brief ist in den neunziger Jahren - als einziges seiner Werke - ausgiebig zitiert worden, besonders in Belgrad und Zagreb, wo man sich gern die Hände wusch. Dem Herausgeber ist das gar nicht recht. Andric, meint er, sei "unverkennbar jener Vielfalt und Weltoffenheit verfallen", einem Anliegen, das er "gegen Nationalisten aller Nationalitäten und Frömmler aller Religionen" habe bewahren wollen. Mag sein, aber den Optimismus seines Herausgebers hat er wohl nicht geteilt. Tatsächlich strahlt der Brief aus dem Jahr 1920 trotz allem eine irritierende prophetische Kraft aus, und wenn "Max" sich sarkastisch über die wohlfeilen Versöhnungsphrasen hermacht, von denen das Land schon damals voll war, so meint man, einen bosnischen Studenten von heute über die internationalen Volkspädagogen in Sarajewo witzeln zu hören. Wo stand Andric? Tatsächlich wohl über den Parteien und Volksgruppen - aber ein bisschen verdächtig weit darüber. So weit, dass man diesem weltoffenen Humanisten nicht kleinlich vorrechnen mag, dass in seinen Erzählungen, auch in diesen, und großen Chroniken meistens (nicht immer) die Muslime die Grausamen, Rätselhaften, Verschlagenen sind, die Kroaten als solche immer erkennbar bleiben und dass nur die Serben ohne nationalcharakterliche Färbung auskommen. Und doch ist es so. Die Muslime, die im Krieg Andrics Büste in Visegrad umwarfen, haben den Autor wahrscheinlich nicht gelesen. Aber die Muslime, die ihn gelesen haben, lasen ihn anders als wir das in unserer Naivität tun. Als leidgeprüfte Minderheit sind sie gewöhnt, hinter der Versöhnungsphrase den großen Anspruch zu entdecken - etwa in der Haltung des schwer auktorialen Erzählers, der seinen Figuren mit Milde und Verständnis, aber auch mit Strenge begegnet. Es war die Haltung Belgrads gegen die Republiken und Völkerschaften. Nach Gorbatschow sprach man in Belgrad eine Weile gern von einem "gemeinsamen Haus Jugoslawien". In Sarajewo wurde der Spruch gerne aufgenommen: "Ein Haus, wo der Vermieter im Erdgeschoss wohnt und aufpasst, dass alle pünktlich die Miete zahlen und die Treppe putzen und dass niemand Herrenbesuch mitbringt." Und der, wie man gesehen hat, notfalls auch Räumungen veranlasste.
Ivo Andric: Die verschlossene Tür. Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Karl-Markus Gauß. Zsolnay, Wien 2003, 300 S., 19,90 EUR
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