Falsche Lok auf dem Gleis

Serbien/Kroatien Der Balkan soll nach Europa - er kommt aber nicht

Alle Signale stehen auf Grün. Ein exakter Fahrplan hängt aus. Die Lok hat genügend Treibstoff, alle Hindernisse sind von den Gleisen geräumt. Die Passagiere sehen ihrer Reise erwartungsvoll entgegen. Aber der Zug bleibt einfach im Bahnhof stehen. So lässt sich der Stand des Unternehmens beschreiben, das die EU im Kosovo-Krieg begonnen und auf ihrem Saloniki-Gipfel im Juni 2003 eingeweiht hat. Der Balkan soll nach Europa. Er kommt aber nicht. Nicht weil er da bleiben wollte, wo er ist oder weil er gar woanders hin wollte. Das Problem ist, dass die Lok nicht fährt. Am Sonntag haben die Bürger Kroatiens zum Entsetzen der EU-Kommission, zahlreicher europäischer Regierungen und westlicher Investoren ihre vor vier Jahren abgewählte Regierungspartei HDZ wieder an die Macht gehievt.

Man erinnert sich: Die HDZ war unter Franjo Tudjman nicht nur fulminant nationalistisch und voller Hass, sie war auch bemerkenswert reformunfähig und ausländerfeindlich. "Europa" war für sie eine Identitätsmarke, kein politisches Ziel. Zu HDZ-Zeiten fühlten sich die Kroaten, einem alten Balkan-Mythos folgend, als tapferer Außenposten des Abendlands, der in den dekadenten Metropolen des Westens mit ihren vielen Türken, Nordafrikanern und sonstigen Morgenländern einfach vergessen wurde. Nun kommt diese HDZ wieder an die Macht - geläutert zwar, aber doch mit einer Menge historischem Gepäck. Man kann nicht einmal die Verzweiflung der Kroaten über ihre soziale Lage für das Desaster verantwortlich machen: Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt. Mag der kroatische Zug nach Europa auch nicht zum Stehen kommen, er wird in jedem Fall erheblich langsamer fahren.

Eine Woche zuvor haben die Serben wieder einmal keinen Präsidenten gewählt: Es war der dritte Versuch in 14 Monaten, wieder gingen statt der notwendigen 50 nur 38 Prozent zur Wahl. Von ihnen stimmten beinahe die Hälfte für den "Radikalen" Tomislav Nikolic´, einen Mann des alten Regimes, der außer Ressentiments und Demagogie nichts anzubieten hat. Der Kandidat der regierenden Reformer bekam von dem guten Drittel der Serben, das zur Wahl ging, wieder nur ein gutes Drittel der Stimmen - die beschämende Bilanz für eine Regierung, die unter schwierigsten Verhältnissen immerhin einen unblutigen Machtwechsel und zeitweise ein enormes Reformtempo hingelegt hat. Jeder achte Serbe, muss man schließen, folgt ihr noch.

In Bosnien schließlich widersetzen sich die Wähler schon seit acht Jahren beharrlich den Empfehlungen ihrer internationalen Erziehungsberechtigten, die nationalistischen Kriegsparteien abzuwählen.

Serbien bekommt am 28. Dezember immerhin noch eine Chance: Dann wird über das Parlament entschieden, und kein Quorum verhindert, dass sich die Zahl der gewählten Kandidaten am Ende zu einem runden Plenum addiert. Vier Blöcke werden zur Wahl stehen, die alle aus diesem oder jenem Grund nicht miteinander können. "Nr. 1" ist die Demokratische Partei des ermordeten Zoran Djindjic, die sich als Wahlliste den Namen von Verteidigungsminister Boris Tadic ausleiht, weil der Premier und Parteichef, Zoran Zivkovic, die Wähler eher abschrecken würde. Gemeinsam mit ihr tritt der Bürgerbund an, die einzige Partei, die in den neunziger Jahren gegen den Krieg war. Gegen diesen linksliberalen Block steht die Partei G-17 unter Miroljub Labus, vereinigt mit den Sozialdemokraten, die gerade erst die Regierung gesprengt haben - Block "Nr. 2". Die G-17 waren ursprünglich ein Think Tank der Anti-Milosevic-Opposition, der den Bürgern zeigen sollte, dass sich auch unter den Gegnern des Präsidenten genügend Sachverstand für eine Regierung gesammelt hatte. Vom linksliberalen Block "Nr. 1" unterscheiden sich die G-17-Experten in Fragen der Währungspolitik und in Details der Justizreform - von denen niemand recht etwas versteht. Verstanden wird nur, dass Labus mit Zivkovic nicht kann. Block "Nr. 3" besteht aus der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) unter dem früheren jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica. Der wurde vom verstorbenen Djindjic´ so lange ignoriert und isoliert, bis er seine sämtlichen Maßstäbe vergaß und aus vollen Rohren gegen die Reformregierung schoss; nicht einmal der Tod seines Feindes konnte ihn mäßigen. Im Block "Nr. 4" stehen die alten Regime-Parteien, mit denen bei Strafe des Untergangs niemand anderes koalieren kann. Vom "Sozialismus" der Milosevic-Jahre ist dort nichts mehr zu hören. Man kämpft mit nationalen Tönen gegen den "Ausverkauf", verspricht dem verarmten Land goldene Berge - die "Radikalen", die hier den Ton angeben, sind die Partei der Dummen und derer, die vor Elend nicht mehr denken können. Alle diese vier Blöcke, werden, wenn es hoch kommt, zusammen jeden zweiten Serben an die Urne bringen können. Dabei gibt es für Apathie gar keinen Anlass. Serbien hat nach seinem Machtwechsel 2000 wirklich einen beträchtlichen Teil der Hilfen bekommen, die ihm versprochen wurden; die Lage ist zwar schlecht, kann aber nur besser werden. Die internationale Isolierung ist überwunden, die EU hat klar ihre Aufnahmebereitschaft signalisiert. Dass das Kosovo nicht mehr serbisch wird, ist im Grunde allen klar - nur weil sich alle belauern, wer es als erster sagt, traut sich niemand, es zuzugeben. Keiner nützt die Gunst der Stunde. Jetzt, da der Krieg vorbei und das Regime vertrieben ist, wäre Zeit für einen Aufbruch: Jahrtausendwende, Milosevic-Sturz, Saloniki-Gipfel - an Anlässen und Symbolen hätte es nicht gefehlt. Und auch wenn niemand recht an Europa glaubt: Alle wollen hin.

Es steht bloß einfach die falsche Lok auf dem Gleis. Die Nationalstaaten auf dem Balkan sind die Projekte ihrer Gründer geblieben. "Serbien", "Kroatien", "Bosnien" - mit den emphatischen Namen für die Gründungen der neunziger Jahre ist die Emphase des vergangenen Jahrzehnts fest verbunden. Wer damals gegen die Regierung war, hatte sich auch vom nationalen Projekt nicht richtig mitreißen lassen und wird jetzt im Führerstand als fehl am Platz empfunden. Die sozialdemokratisch geführte Koalition in Zagreb wurde von den Wählern nur kurzfristig gebraucht, um der regierenden HDZ ihre Grenzen zu zeigen. Jetzt hat sie als die "eigentliche" kroatische Partei die Macht rückübertragen bekommen. "Serbien" war die Veranstaltung von Slobodan Milosevic, dem charismatischen Führer - "Bosnien" das skurrile Ergebnis eines jahrelangen Krieges. Noch sind die "Nationen" im früheren Jugoslawien eher Parteien, ideologische Gebilde - etwa wie die frühe Bundesrepublik Deutschland, aus der erst eine Nation wurde, als ihr 1968 das abgetrennte linke Bein nachgewachsen war. Es dauerte ein Vierteljahrhundert.


Serbiens Nach-Milosevic-Ära

März bis Juni 1999 - Militärintervention der NATO gegen Serbien und Montenegro, der jugoslawische Präsident Milosevic stimmt schließlich einem Status des Kosovo als "Protektorat der Vereinten Nationen" zu.

5. Oktober 2000 - nach Demonstrationen in Belgrad erkennt Milosevic seine Niederlage bei den vorangegangenen Wahlen an. Vojislav Kostunica (DOS-Bündnis) wird neuer Staatschef der Bundesrepublik Jugoslawien. Premier der neuen serbischen Regierung wird Djoran Djindjic.

28. Juni 2001 - Auf Beschluss der serbischen Regierung wird Slobodan Milosevic an das Haager UN-Tribunal ausgeliefert.

12. Juni 2002 - Bruch zwischen Kostunica und Djindjic, nachdem es zuvor zu Differenzen über den Umgang mit dem Haager Tribunal und Serbiens EU-Politik gekommen war. Kostunicas Demokratische Partei (DSS) steigt aus dem DOS-Bündnis aus.

29. September 2002 - in der ersten Runde serbischer Präsidentschaftswahlen, bei denen sich neben Kostunica auch der einstige Vizepremier Miroljub Labus und der Führer der serbischen Erneuerungsbewegung Vuk Draskovic beteiligen, erreicht kein Kandidat die nötige absolute Mehrheit. In der zweiten Runde ist das Votum ungültig, da weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten teilnehmen.

8. Dezember 2002 - ein weiterer Versuch zur Wahl eines serbischen Präsidenten scheitert wieder an zu geringer Wahlbeteiligung.

12. März 2003 - Premier Djindijc kommt bei einem Attentat ums Leben, für das die serbische Mafia verantwortlich gemacht wird.

16. November 2003 - Präsidentschaftswahlen in Serbien misslingen ein drittes Mal.

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