Man hat Peter Glotz, der Ende August letzten Jahres mit 66 Jahren gestorben ist, als typischen Politiker der BRD bezeichnet, eine Art letzten Westler. Aber typisch war er für nichts. Er passte nicht zu den Rechten und nicht zu den Linken, nicht an die Uni und nicht ins Bierzelt. Er war kein "Kennedy", wie man in den sechziger Jahren in der SPD die strahlenden jungen Hoffnungsträger nannte, aber natürlich auch kein "Urgestein". Kaum meinte man den Zusammenhang seines Denkens verstanden zu haben, überraschte er mit seiner stets leicht grummelnden Fürsprache für Privatfernsehen, Studiengebühren oder zuletzt für Erika Steinbachs "Zentrum für Vertreibungen". Solche Überraschungen schienen ihm Spaß zu machen. Anhänger hatte und wollte er keine.
In seinem nachgelassenen Memoirenband enthüllt er nun sein Geheimnis. Glotz war sein Leben lang einer bestimmten Spezies von Nachkriegssozialdemokraten verfallen; ungemütlichen Menschen, nach denen heute Parteihäuser benannt sind, die aber keiner mehr kennt. Seine ausgestorbenen Vorbilder waren starrsinnig, aber solidarisch, individuell, aber nicht individualistisch, hatten Verfolgung erlebt und kannten deshalb ihre Kriterien für die Beurteilung anderer Menschen sehr genau. Sie waren skeptisch, aber nicht zynisch, grundsätzlich, aber nicht ideologisch.
Dem Jahrgang nach hätte Peter Glotz, geboren 1939 im böhmischen Eger, auch ein Achtundsechziger werden können, aber der frühe Kontakt mit einem Politiker wie dem bayrischen Sozialdemokraten Waldemar von Knoeringen hat ihm das unmöglich gemacht. Von solchen vergessenen Menschen hat Glotz gelernt, ihnen war er treu. Seine politische Vita ist der Versuch, ihren Geist in eine veränderte Zeit zu übersetzen.
Glotz´ Vorbilder haben, genau wie ihr später Epigone, in allen Milieus gefremdelt. Das alte, traditionell sozialdemokratische, war ihnen suspekt, seit es sich im Dritten Reich als wenig widerständig erwiesen hatte. Weniger noch passten sie zum selbstgefälligen Bürgertum der Adenauerzeit, das seine braune Vergangenheit wegbetete. Sie wurden nie richtig prominent und kaum je populär. Manche waren Schriftsetzer von Beruf und hatten sich in Parteischulen eine gewaltige, aber ganz unbürgerliche Bildung erworben, manche waren in der Weimarer Zeit als Bürgersöhne und -töchter zum Sozialismus konvertiert, aus Abscheu gegen die zähen Vorkriegseliten.
Von ihnen nahm er seine Abwehr gegen die "Stinknormalen", die "auch noch stolz darauf sind, stinknormal zu sein". Mit dieser Sorte Freigeist, möchte man meinen, hätte Glotz in der liberalen Generation der Nach-Achtundsechziger eine späte Heimat finden können. Aber es gab noch einen anderen Glotz. Was die Jugend an ihm nicht verstand, war seine Loyalität, seine bewusste Parteilichkeit, eine Tugend, die bei ihm ganz selbstverständlich und unkitschig daherkamen. Sie stammt aus einer Zeit, als Individualität ein Verbrechen war und als man gerade für seinen Eigensinn Solidarität erfahren durfte.
In der Demokratie passten Eigensinn und Loyalität nicht so gut zusammen, was Glotz, den beides auszeichnete, vielleicht nicht recht wahrhaben wollte. Dass er immer zwischen allen Stühlen Platz nahm, erklärt er in seinen Memoiren mit seinem Vertreibungsschicksal, das den geborenen Sudetendeutschen im zarten Alter von sechs Jahren ereilte und ihm offenbar erst spät wieder zum Thema wurde. Das ist nicht ganz schlüssig. Denn in der SPD rieb der kantige Politiker sich bis in seinen Lebensbericht hinein immer gerade an den Funktionären mit "Bodenhaftung", die nie denken mussten, weil ihnen alles immer selbstverständlich war - einem Typus, der unter Kanalern, Gewerkschaftern, Ossis, Evangelischen, Alternativen, Uni-Leuten und Feministinnen gleichermaßen häufig ist. Musste er es da nicht als Segen empfinden, in keine dieser Szenen hineingeboren zu sein? Von Heimat zu Heimat heißt Glotz´ Buch, und man spürt fast auf jeder Seite die Anstrengung, die es ihn kostet, nirgends so ganz daheim zu sein und sich in Gewissheiten zu kuscheln, wie man es in ganz Deutschland seit jeher so gerne tut.
Die Anstrengung hat sich gelohnt, denn Peter Glotz hat, den Tod schon vor Augen, wohl die ehrlichste Politiker-Biographie geschrieben, die je erschienen ist. Er hat weder "im Staatsinteresse" noch irgendwie "für die Menschen" Politik gemacht, sondern einfach so. Nie redet er sich seine historische Rolle schön, nie gibt er mit "Freundschaften" an. Wenn Glotz einen Fehler gemacht hat, steht bei Glotz: Ich habe einen Fehler gemacht - und nicht, dass er es "im Grunde" immer schon wusste und dass alle anderen noch viel schiefer lagen.
Nein, schreibt Glotz, so richtig empören konnte ihn die Parteispendenaffäre des Jahres 1982 nicht, dazu war er selbst "zu parteiisch", "ein Parteisekretär eben". Das nimmt für ihn ein. Seine Kollegen, auch seine Quälgeister Herbert Wehner und Jochen Vogel, beurteilt er allesamt kritisch, aber fair und mit dem gleichen Maßstab, den er auch an sich anlegt. Bei näherem Hinsehen können sich seine Analysen über die Jahrzehnte hinweg sehen lassen. Immer schon hat er sich geweigert, die Lücke zwischen Wunsch und Realität mit idealistischer Watte zu füllen; was der rationalistische Generalsekretär über den "visionären" Erhard Eppler schreibt, hat Bestand. Irgendwann hatte er das Politiker-Sein einfach satt, und so steht es auch in seinem Buch.
Glotz durfte man alles fragen. Und so dürfen sich seine Leser auch die Frage stellen, wozu eine Biographie dient, die uns weder einen Titanen der Weltgeschichte vorstellt, noch Blicke durchs Schlüsselloch gewährt oder ein überzeitliches Vermächtnis enthält. Gegenfrage des toten Glotz: Was erwartet ihr denn? "Uns gründlich entmystifizieren / Können wir nur selber tun" hätte es in der Internationalen geheißen, wenn Glotz sie umgedichtet hätte.
Peter Glotz: Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers. Econ, Berlin 2005, 342 S., 24,90 EUR
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