Gesucht und gefunden

Nachtexistenz Zum Nachlass der Autorin Brankica Becejac (1970-2001)

Aus Amerika kommt der Witz von dem Schwarzen, der in der Straßenbahn eine hebräische Zeitung liest. Erkundigt sich ein Mitfahrer: "Neger allein genügt ihnen wohl nicht?" Der brutale Spruch rührt an etwas Wahres. Brankica Becejac war erst Jugoslawin, dann eine Extremistin, irgendwie lesbisch, schließlich ein Mordopfer. Und ganz am Anfang wohl nur: Jugoslawin. Das war in Hannover, wo das Mädchen des Jahrgangs 1970 aufwuchs, keine Empfehlung, und schon gar nicht auf der "Eliteschule", die das Gastarbeiterkind wegen seiner herausragenden Intelligenz besuchen konnte. Manche reagieren auf erste Zurückweisungen damit, dass sie erst recht dazugehören wollen, wenn nicht zur guten Gesellschaft, dann zu einer Subkultur. Andere schämen sich. Wenige nehmen ihre Fremdheit an und halten sie selbstbewusst aus. Bei Brankica Becejac, die im Juni 2001 in Berlin von ihrem Partner getötet wurde, ist die Distanz, die ihr verordnet wurde, und die Anstrengung, die das kostet, auf jeder Seite und in jedem Satz zu spüren. Aus ihrer Fremdheit hat Becejac zum Glück der Nachwelt eine poetische Mission gemacht. Eine Novelle (Die Prüfung) ist zu ihren Lebzeiten erschienen, eine zweite (Die Aufgabe) findet sich schon postum in diesem Band, der ihr Leben und ihren Tod zum Thema hat.

Alle Figuren in Brankica Becejacs Werk sind sich und allen anderen fremd. Den Zugang zu ihnen sucht die Autorin über Sprache, Strenge im Ausdruck, genaue Beobachtung. Aber hinter allen hässlichen Masken und Posen ist nichts Eigentliches zu finden. Hier wird seziert, also technisch fein geschnitten und mit wissenschaftlichem Hintergrund. Essay und Erzählung gehen in einander über. Genaue Beobachtung trifft in Becejacs Texten unvermittelt auf höchste Abstraktion. Dazwischen gibt es nichts. Was bei uns anderen als natürlich und selbstverständlich daherkommt, ist nur internalisierte Gewalt - wie die "kleine Pelle", in die Leonhard Gast, der Held der Aufgabe, von seinen Kindergärtnerinnen immer wieder zurück gezwungen wird, bis sie ihm eine "zweite Haut" wird. In Hingestellt, dem inneren Monolog einer deutschen Arbeiterfrau, schaut die Autorin durch die Alltagssprüche ihres Geschöpfs hindurch und stößt auf die gleiche Leere und Verzweiflung, die sie bei sich selber spürt. Keine Heimat, keine Seele.

In dem Essay Ortlos - Ausgewiesene Schuld erzählt Becejac über die Entstehungsgeschichte ihrer eigentümlichen Sprache, die oft an Elfriede Jelinek erinnert, aber weniger getrieben und noch artifizieller wirkt. "Das Sprechen der Fremden", sagt sie über sich in ein paar wunderbaren Sätzen, sei von einer "Gefährdung" begleitet: "Sie läuft Gefahr, entsprechend ihrer Fertigkeit sprechend schuldig zu werden." Die Sprache nämlich gehört der Fremden nicht, sie ist das Eigentum derer, die mit ihr geboren sind. Deutsche sind entsprechend stolz auf ihren "Eingeborenenakzent", denn er gibt ihnen Identität. Es ginge auch anders. Franzosen schämen sich für ihr Patois. Franzosen freuen sich dafür über Ausländer, die ihre Sprache sprechen. Deutsche nicht; sie fühlen sich bestohlen. Oder schlimmer: verarscht. Die Fremde soll stammeln. "Der ganze mögliche Zierat ihrer Rede wird als Hehlerware ausgewiesen, die nun frech als Geschenk im Gespräch wieder auftaucht." So, in diesem Ton, durfte Sartre reden, der sein schönes Französisch von seinem germanophonen Großvater gelernt hat. Aber keine deutsche Studentin mit "Migrationshintergrund", wie es im Jargon der Sozialtechniker so schön hässlich heißt. Sprache dient nicht der Kommunikation, sondern gibt Identität. "Kraft seines Geburtsrechts ist eine jeder Nativsprecher befugt, ein Urteil zu sprechen über meine Sprachkompetenz." Nur die Fremde nimmt die Wörter in die Hand wie ein Werkzeug. Bei der Ausübung ihres Handwerks, in ihrer Magisterarbeit über Bachmann und Jelinek, klingt dann auch bei Becejac ein Wir an: Wir, die Dichterinnen, sehen in unserer "monologischen Nachtexistenz" schärfer als die anderen und nehmen, was nur scheinbar zusammengehört, "auseinander, um es schief wieder zusammenzusetzen" - nicht zufällig ein sehr Sartre´sches Wir.

In ihren Texten sucht Becejac immer weiter nach dem versperrten Zugang zu den anderen Menschen. Sie will diesen Zugang nur nicht zu billig haben und geht deshalb dahin, wo sie die Wurzeln der Entfremdung vermutet. In der Aufgabe, aber auch in den kleineren Stücken ist Kindheit das große Thema: die eigene natürlich, aber oft über den Umweg über andere Kinder, die die Erwachsene beobachtet - auf dem Schulweg, am Strand, beim Spielen in ihrer Wohnung. Aber sie findet nur Bruchstücke, kleine Situationen und Kommunikationen, die ihr helfen, eine Spur zu legen. Die Verbildungen, zu denen sie führen, sind zwangsläufig. Nirgendwo scheint eine Utopie auf. Becejac bleibt von Autisten umgeben. In Ortlos - Ausgewiesene Schuld, diesem wirklich brillanten Essay, hat Becejac Sprüche in Paragraphen gefasst. "Sie sprechen aber gut Deutsch!" lobt da die vorgesetzte Angestellte. "Du sprichst aber komisch!" rufen die lieben Kleinen und "wittern die Künstlichkeit der Rede". "Wie lange sind Sie schon in Deutschland?" "Sie haben sicher Heimweh!" Und zwei, drei wirklich böse Verletzungen, die keine Metaphern sind: Der Hooligan, der der Mutter in der Straßenbahn die Hand zerschlägt. Der Vermieter, der dem Vater die Tür vor der Nase zuschlägt. Die Behördenangestellte, deren Freundlichkeit zu der blonden jungen Frau erstirbt, als sie den Akzent hört.

"Migrant" wird man durch den Eintritt in eine neue Gesellschaft und in ein fremdes kategoriales System, in dem für Jugoslawen, Türken, Italiener kein Platz ist. Dann ist es auch egal, wo ein "Migrant" herkommt. Von diesem Eintritt handelt das Werk von Brankica Becejac. Es geht um Deutschland. Jugoslawien, ihr Geburtsland, ist im vorliegenden Band das Thema eines einzigen Aufsatzes: Von einem Land vor unserer Zeit, der 1999, zu Lebzeiten von Becejac, auch im Freitag veröffentlicht wurde. Im Kosovo-Krieg jenes Jahres, heißt es da, habe das "deutsche Europa" mit Jugoslawien in Wahrheit ein "mythisches Land" bekämpft, wo "irgendwo im Nirgendwo ein wahnsinniger König herrscht". Zwei Prinzipien, glaubte Becejac, hätten da gegen einander gestanden: "Das Jugoslawische muss aus der Welt, damit das Nicht-Jugoslawische, das Vereinigte Europa der Zukunft, sich umso deutlicher konturieren kann." Zum neuen Europa der sauberen Nationalstaaten passt schon das heutige "reinrassige" Kroatien, "wohingegen in Belgrad oder Novi Sad oder Curug oder Becej oder oder noch immer Südslawen aller Art und Prägung, aber auch Ungarn, Sinti und Roma oder Deutsche (!) leben."

"Das Jugoslawische": Das ist die Natürlichkeit und selbstverständliche Toleranz, die Deutsche und andere Abkömmlinge zwangsweise homogenisierter Nationalstaaten hier so fasziniert - das Gegenstück zu der repressiven Einheit, die noch 1990 in Deutschland wieder einen Staat geschaffen hat. Man kann es sich leicht machen und einwenden, dass ja das "neue Europa" nur eingegriffen hat in einen blutigen Zerfallskrieg, den das tolerante Jugoslawien allein aus sich heraus hervorgebracht hat - in einem verständnislosen internationalen Umfeld zwar, aber doch mit eigener Brutalität, eigenem Hass und einer eigenen Dynamik der Ausgrenzung. Man darf sich ruhig auch wundern, warum in dem Essay zum Kosovo-Krieg die Albaner, die ja gewiss keine Engel waren und die man nicht verherrlichen muss, mit keinem Wort vorkommen. Bei allem falschen Pathos: Gestorben und vertrieben worden sind die Albaner ja wirklich. Es ist wohl kein Zufall, dass niemand unter den großen Intellektuellen in Jugoslawien selbst den Gegensatz zwischen dem "neuen" und dem "jugoslawischen" Europa so bewertet oder nur so gesehen hat wie Becejac - keine Dubravka Ugresic oder Rada Ivekovic, kein Ivan Lovrenovic kein Bora Cosic, kein Dragan Velikic, obwohl auch sie alle wissen, was sie an Jugoslawien verloren haben. Wohl aber ein Peter Handke, für den das Jugoslawische eine Tiefenschicht in seiner Erinnerung ist, kaum in Begriffe zu fassen, nur zu erspüren, wie beim Besuch des jugendlichen Geniereisenden im Bahnhofsrestaurant von Jesenice gleich hinter der Grenze, und vielleicht zu erzählen.

Dieses mythische Land ist auch bei Becejac (zu deutsch: die oder der aus Becej, der Kleinstadt in der Batschka, wo Becejac tatsächlich geboren ist) bloß das andere Deutschland, wie umgekehrt Deutschland für viele Gastarbeiter aus Kroatien und aus der Vojvodina nur das andere Jugoslawien war - ein Land, das man sofort verstand und in dem man sich gar nicht fremd gefühlt hätte, wenn die anderen einen nicht immer und immer wieder zum Fremden gemacht hätten. So hilft auch dieser Aufsatz, wenn man es sich nicht zu leicht macht, Deutschland besser zu verstehen. Tragisch ist, dass die Lehre so politisch daherkommt und an einem real existierenden Land entwickelt wird; es verführt zu Fehlschlüssen.

Was Brankica Becejacs Leben und Werk mit ihrem gewaltsamen Tod zu tun haben, kann nur wissen, wer sie gekannt hat. Ihr Freund Martin, den sie geheiratet hatte, um deutsche Staatsbürgerin zu werden, erschlug sie, nachdem sie sich in einen andern verliebt hatte, und erhängte sich dann. Der zweite Teil des Nachlassbandes besteht aus Gedanken und Erinnerungen von Freunden aus verschiedenen Generationen, Mitarbeitern von einer Zeitschrift für intellektuelle Zwischenstufen, der Berliner Freitag-Redakteurin und Intellektuellen Marina Achenbach, in deren Gefühls- und Gedankenwelt Jugoslawien eine so große Rolle spielt, dem Germanisten Chris Bezzel, schließlich ihrem verzweifelten Vater. Keiner von ihnen gibt vor, das Geschehene begriffen zu haben. Über einen "Mord im Philosophen-Milieu" schrieb die Bild. Philosophen-Milieu? Offenbar gab es das rund um Brankica Becejac wirklich, und der Band über sie erhält es auch über ihren Tod und den ihres Mörders hinaus. Sie hatte die Menschen, die sie gesucht hat, offenbar gefunden.

Brankica Becejac: Ich bin so wenig von hier wie von dort. Leben und Werk. Edition Nautilus, Hamburg 2006. 251 S., 19,90 EUR


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