Grenzenloses Zutrauen

Ausreise Deutschland ist für Albaner, Serben und Bosnier von ähnlicher Anziehungskraft wie Frankreich für Algerier, Ivorer und Senegalesen
Ausgabe 32/2015
Zug nach Europa
Zug nach Europa

Foto: Dimitar Dikoff/AFP/Getty Images

Im Juni kamen 30 Prozent aller Asylbewerber vom Balkan – aus einer Weltgegend also, wo es weder Krieg noch Verfolgung gibt. Die Zahl hat es zum Aufreger der vergangenen Wochen gebracht – und allerlei Ideen sprießen lassen, wie man diesem Trend entgegentreten könne. Ein erster, hilfloser Vorschlag bestand darin, den Menschen schon im Heimatland zu erklären, dass sie in Deutschland kein Asyl bekommen würden; ein Rezept, das angeblich die panikartige Ausreise aus dem Kosovo im zurückliegenden Winter zum Versiegen gebracht hat. Aus der CSU kam die angestaubte Idee, die Visumspflicht für die Balkanländer wieder einzuführen, damit die Menschen gar nicht erst herkommen. Von eher wohlmeinender Seite war zu hören, man solle den Leuten doch bitte in ihren Heimatländern helfen. Auf Staaten, die Kandidaten für einen Beitritt zur Europäischen Union sind, oder es – wie das Kosovo – demnächst werden sollen, scheint die Anforderung erst recht zuzutreffen.

Nichts davon hat Aussicht auf Erfolg. Dass sie in Deutschland kein Asyl bekommen, ist den Emigranten in aller Regel bewusst. Der Asylantrag verschafft aber wenigstens für einige Monate einen legalen Aufenthaltsstatus. Den Älteren, weniger gut Ausgebildeten unter ihnen, die besonders aus den strukturschwachen Gebieten im ländlichen Kosovo, in Mazedonien oder aus Ostalbanien kommen, genügt es, ein paar Monate in Deutschland schwarz zu arbeiten, um dann den Rest des Jahres davon leben zu können. Andere, vor allem Jüngere, haben vor, irgendwie legal oder halblegal zu bleiben und sich eine Existenz aufzubauen.

Biografische Wurzeln

Österreich, das Deutschland sonst so ähnlich ist, hat kaum Asylbewerber vom Balkan. Der Grund sind die extrem kurzen Asylverfahren. Die wurden eingeführt, als noch die allermeisten Anträge abgelehnt wurden. Jetzt, da die meisten Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder anderen Ländern kommen, in die nicht abgeschoben werden darf, will Österreich die Anerkennung wieder auf die lange Bank schieben – was über kurz oder lang auch wieder Flüchtlinge vom Balkan anziehen wird.

Vollends unsinnig ist die Idee, die Reisefreiheit für Südosteuropäer wieder einzuschränken. Die weitaus größte Flüchtlingswelle kam zu Beginn des Jahres ausgerechnet aus dem einzigen Balkanland, dessen Bewohner nicht frei in den Schengen-Raum reisen dürfen: aus dem Kosovo. Schon eine Debatte über die Wiedereinführung der Visumspflicht dürfte in Serbien, Mazedonien oder Albanien eine panikartige Ausreisewelle nach sich ziehen. Dem Ziel, die Balkanstaaten zu stabilisieren und sie an die EU heranzuführen, stehen Reisebeschränkungen direkt entgegen.

Wer schließlich lieber „den Menschen in ihren Heimatländern“ helfen will, muss wissen: Überweisungen aus Deutschland und der Schweiz sind im Kosovo derzeit der zweitwichtigste Einkommensfaktor. Bleiben sie aus, kollabiert die Wirtschaft endgültig, und die Menschen flüchten in noch weit größerer Anzahl. Das beliebteste Ziel wird dabei unweigerlich Deutschland bleiben. Mit anderen Worten: Die Auswanderung vom Balkan lässt sich nicht stoppen. Deutschland ist für Albaner oder Bosnier das, was für Algerier und Ivorer Frankreich und für Pakistaner und Migranten aus Ghana Großbritannien ist: das Referenzland – ein Land, das man kennt, dessen Sprache man spricht oder wenigstens im Ohr hat, dessen Fernsehprogramme man schaut, dessen Kultur einem vertraut ist.

Die Gründung der Nationen im 19. Jahrhundert folgte Johann Gottfried Herders Idee von den Völkern, die ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen. Die Sprachen schulten sich oft an deutscher Begrifflichkeit. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hatten viele Intellektuelle aus den Balkan-Staaten und darüber hinaus in Deutschland oder Österreich studiert. Noch heute sprechen der türkische Fernfahrer und der serbische Kellner an einer Autobahnraststätte deutsch miteinander. Mindestens anderthalb Millionen Deutsche, wahrscheinlich aber weit mehr, haben im früheren Jugoslawien ihre biografischen Wurzeln. Das Kosovo mag für eine überwiegende Mehrheit der Deutschen ein fremdes, fernes Land sein. Umgekehrt trifft das Gegenteil zu. Zehntausende Kosovaren haben einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht, und die anderen haben dort mindestens Verwandte.

Wenn es einem schlecht geht, und das trifft im achten Jahr der Eurokrise für immer mehr Menschen zu, dann geht man nach Deutschland. Wohin auch sonst? Auf welchem Ticket – ob als Asylbewerber, Arbeitnehmer, Familienangehöriger –, ist zweitrangig. Man wählt eben den Weg, der sich anbietet. Statt über „Asylbetrug“ zu jammern, sollte Berlin sich freuen, dass die Auswanderer mit ihrem Asylantrag einen legalen Weg suchen und nicht gleich illegal ins Land kommen, um dann in prekärer Arbeit oder gar auf den kriminellen Brachen der Gesellschaft zu landen.

Ein Drama ist das nicht

Krise herrscht bekanntlich nicht nur auf dem Balkan – dort aber eben auch. Im Kosovo liegt die Arbeitslosenrate real bei 50 Prozent, wenn man allein die Daheimgebliebenen zählt. Die am dichtesten bevölkerte Region des Balkans hat sich niemals selbst ernähren können. Der kurbet, die temporäre Arbeitsemigration, hat eine lange Geschichte. In allen anderen Balkanstaaten herrscht zwischen reichen und armen Regionen bis heute ein riesiges Gefälle, sogar in Kroatien: Das Verhältnis der reichsten zur ärmsten Region liegt bei 1 zu 3,5 – im 20-mal größeren Deutschland steht es zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Bayern 1 zu 1,8.

Binnenmigration und Pendeln ist mangels eines funktionierenden Wohnungsmarktes und wegen fehlenden öffentlichen Nahverkehrs in den Westbalkanstaaten kaum möglich. Für Strukturförderung fehlen den Regierungen in Belgrad, Skopje oder Tirana die Mittel und die Kompetenz. Und auch für die Geber, EU oder Internationalen Währungsfonds, stehen Armutsbekämpfung und Strukturausgleich in der Agenda nicht weit oben.

Norbert Mappes-Niediek schrieb zuletzt über die Unruhen in Mazedonien

Ein Drama ist das jedenfalls für Deutschland nicht. Auf dem Balkan wächst eine Generation heran, die ihre Orientierung nach Nordwesten wieder mit einem großen Bildungshunger kombiniert. Private Universitäten, vor allem amerikanische, sind der große Renner in jener Region. Aber aus dem Kosovo halten ganze 54 junge Leute in Deutschland ein Studentenvisum – und gezählte fünf Kosovaren halten eine Blue Card für gut ausgebildete Führungskräfte. Ein Vorschlag aus den letzten Wochen wenigstens war vernünftig: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz. Noch wichtiger wäre, endlich zu begreifen, dass der Balkan zu Deutschland gehört wie der Maghreb zu Frankreich und das Commonwealth zu Großbritannien.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden