Historische Ressentiments stehen genug bereit

Kulturschock Osterweiterung Das kulturell-geistige Gleichgewicht im neuen Europa wird sich verändern, auch wenn die Neuzugänge keinen einheitlichen Block bilden

Deutschland werde "nördlicher, protestantischer" werden, sagte der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe kurz vor der Wiedervereinigung, und kaum war ihm das Wort entfahren, zischte ihm von seinen sämtlichen Politikerkollegen aller Parteien ein ärgerliches "Pssst!" entgegen. So etwas denkt man vielleicht, man sagt es aber nicht. Politik und vor allem Diplomatie funktionieren nur dann, wenn man alle kulturellen Unterschiede ausblendet und immer so tut, als stünde hinter 1.000 Phrasen keine Welt. Besonders gefährlich war es natürlich, die Bayern und die Rheinländer daran zu erinnern, dass dieses künftige Gebilde historische Vorbilder hatte, mit denen sie meinten abgeschlossen zu haben.

Bis heute hat niemand offen gesagt, dass Europa nach dem 1. Mai "östlicher, katholischer" wird. Aber es gibt durchaus Kreise, in denen darüber stille Freude herrscht. Anders als die Deutschen sprechen sie nicht darüber und wenn doch, dann durch die Blume. Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel nennt die Osterweiterung "Wiedervereinigung Europas", die Vertreter der "Paneuropa-Bewegung" gehen in den Hauptstädten des Ostens ein und aus, das Wiener "Institut für Donauraum und Mitteleuropa" erfreut sich eines wachsenden Mitarbeiterstamms und großer Beliebtheit. Nicht nur Preußen ist wieder da, auch Österreich-Ungarn. Zwar deutet nichts darauf hin, dass dem greisen Otto von Habsburg doch noch jemand die Kaiserkrone antragen wird. Aber immerhin haben die Vorzeichen der "Wiedervereinigung" österreichische Bankfilialen und Tankstellen in jede östliche Kleinstadt gebracht. Besondere Freude über die neue Einheit herrscht nicht nur bei österreichischen Konservativen, sondern auch bei norditalienischen Separatisten, die einen neuen "Raum" entstehen sehen. Räume sind ihnen sympathischer als der italienische Staat. Ein "Raum" hat keine Armee und kein Parlament und treibt vor allem keine Steuern ein.

Mit dem realen Osten haben die österreichischen und italienischen Träume so wenig zu tun wie einst die westdeutschen mit der DDR. Wie nördlich und protestantisch Deutschland seit 1990 geworden ist, werden die Deutschen, selbst Objekt dieses Prozesses, wohl erst hinter der nächsten historischen Ecke wissen können. Fest steht aber, dass sich ihre näher liegenden Erwartungen an die Wiedervereinigung nicht erfüllt haben - etwa die der Sozialdemokraten, die meinten, ihre einstigen Stammlande Sachsen und Thüringen wieder holen zu können, oder die der geflüchteten ostelbischen Gutsherren, die gehofft hatten, ihre früheren Landarbeiter würden ihnen nun wieder die Hand küssen. Auch die Katholiken in Wien oder München, Venedig und Triest müssen mit ihren Hoffnungen auf die Osterweiterung nicht Recht behalten.

Die Bundesrepublik vergrößerte sich bevölkerungsmäßig um ein Fünftel, aber um eines, das eine gewaltige Identitätskrise mitbrachte. Bei der EU-Osterweiterung kommt das neue Fünftel an der Hand selbstbewusster politischer Eliten. So etwas wie die Verweigerung der Polen gegen die EU-Verfassung hätte es 1990 nicht gegeben. Die Neuen sind vom ersten Tag an eine politische Macht, die sich nicht bloß untergründig bemerkbar macht. Die so genannten Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn verfügen im Rat über genau so viele Stimmen wie Deutschland und Frankreich: 58. Das europäische Gemeinschaftsbewusstsein ist überall noch schwach ausgeprägt; jede Neuerung wird überall vor allem darauf abgeklopft, was sie "uns" bringt. Weitere Schritte zur Vertiefung werden drängender, aber auch umso schwerer. Die Aufholbewegung, die den neuen Mitgliedern bevorsteht, hat für die Union ein retardierendes Element. In Bonn wurde 1989 über den Rückbau von Autobahnen diskutiert, 1990 ging es nur noch um den Ausbau. Es war die "Entschleunigung", die die Europa-skeptischen Briten zu Anhängern der Osterweiterung werden ließ.

Wer bei mitteleuropäischem Sozial- und Geistesleben vor allem an Havel, Kertész oder Ziz?ek denkt, wird schwer enttäuscht sein. Ungebrochen durch die kommunistische Ära, herrscht überall ein ausgeprägtes Oben-Unten-Denken vor, begleitet von der festen, durch reiche Lebenserfahrung gesättigten Überzeugung, dass es auf den Einzelnen nicht ankommt und die Herrschenden doch machen, was sie wollen. Verwaltungen agieren ebenso schwerfällig wie selbstherrlich. Demokratie wird bestenfalls als ein technisches Regelsystem akzeptiert, das sich gegen alle Inhalte neutral verhält. Mit Werten wird sie nicht assoziiert; sie kam ja gerade zu einer Zeit, als alles nur noch ums Geld ging. Bürgerliche Wertsysteme waren im Kommunismus nicht bloß vorübergehend außer Kraft. Sie waren auch vorher schwach entwickelt. So etwas wie die Haider-Sanktionen des Jahres 2000 gegen Österreich stößt überall auf Kopfschütteln oder wird missverstanden. Prag, das sich damals beteiligte, tat das nur, um den Österreichern eins auszuwischen. Nicht, was einer sagt ist wichtig, nur was einer tut - eine verständliche, aber auch debatten- und demokratiefeindliche Haltung. Antifaschismus ist eine Art Religion, dazu auch noch eine kommunistische. Mit Religionen pflegt man einen vorreformatorischen Umgang. Aus katholischer Zeit ist man gewöhnt, dass die Bauern während der Predigt vors Kirchentor gehen und über die Ferkelpreise verhandeln; herein kommen sie erst wieder, wenn die Wandlung beginnt. Man geht in die Kirche, glaubt dem Pfarrer aber kein Wort. Europa wird weniger Wörter hervorbringen. Die Briten werden im neuen Europa nach wie vor messerscharf argumentieren, die Franzosen rhetorisch brillieren, die Deutschen tief nachsinnen - nur wird es alles auf die Realität weniger Einfluss haben. Der Osten ist vor allem gut im Fingerhakeln. Dass es bei Politik um Macht geht und nicht um "Problemlösungskompetenz" oder um "Chancen für die Menschen", wird hier auch von den Untertanen spontan verstanden. Man mag die Macht nicht, aber man braucht sie.

Anders als die offizielle Terminologie will, ist dies nicht die erste Osterweiterung, sondern die fünfte. Die letzte betraf 1995 Österreich, ein Land, von dem der geborene Wiener Eric Hobsbawm schon im Kalten Krieg herausgefunden hatte, dass es trotz Eisernem Vorhang und regelmäßigen Wahlen dem kommunistischen Ungarn in Wesen und Erscheinung verblüffend glich. Haider hatte ja "nur geredet" und nichts "getan" - die österreichische Entschuldigung von damals wird überall im Osten für plausibel gehalten und demnächst auch dem polnischen und dem ungarischen Antisemitismus zuteil werden, den zwar dort längst nicht alle teilen, den aber kaum jemand ernst nimmt.

Die vorletzte Osterweiterung, 1990, galt der DDR, die drittletzte, 1981, Griechenland, dem bis heute einzigen orthodoxen Land in der Gemeinschaft. Was in Griechenlands Politik und Verwaltung vor sich geht, ist im Rest der EU auch nach einem knappen Vierteljahrhundert weitgehend unbekannt und niemand will es genau wissen. Der Regierung ist bewusst, dass sie am Brüsseler Tropf hängt, und sie hütet sich deshalb, bei Kontroversen zu weit vorzupreschen. Kassieren und schweigen - eine Perspektive, die sich auch für Zypern oder Polen und später einmal für Rumänien anbietet.

Die erste Osterweiterung aber betraf 1955 Westdeutschland - formal von Anfang an dabei, in Wirklichkeit aber Objekt und nicht Subjekt der EWG-Gründung. Damals überschritt, ausgehend von den alten Demokratien wie England, Frankreich und den Niederlanden, die westeuropäische Staatskultur den Rhein, so, wie sie jetzt die Oder überschreitet. Bis dahin wurde, auch nach dem Krieg noch, in Hamburg oder Frankfurt "deutsch gedacht". Von da an nicht mehr.

Ob oder wie stark die gesamte Union sich nach dem 1. Mai verändert, hängt davon ab, ob die neuen Länder ihr politisches Gewicht wirklich ausspielen. Wünschenswert wäre es nicht. Dass sie feste "Blöcke" bilden könnten wie die Skandinavier oder die Benelux-Staaten, muss als unwahrscheinlich gelten. Eher kommen sie dann zusammen, wenn es nationale Eigenständigkeit zu verteidigen gilt - in destruktiver Absicht also. Für fast alle östlichen Beitrittsländer ist Deutschland ein wichtigerer Handelspartner als jedes andere Land auf der Welt, die direkten Nachbarn eingeschlossen; nur für die Esten ist Finnland und für die Litauer Großbritannien noch wichtiger. Die Ungarn tauschen allein mit den Franzosen mehr Waren aus als mit Tschechen, Slowaken, Slowenen und Rumänen zusammen. Ob sich die Wirtschaftskraft der großen EU-Staaten in politische Macht umsetzen lässt, hängt von ihrem Geschick ab. Marschieren sie zu schnell voran und schneiden sie zu viele Reizthemen an, könnte der EU-interne Ostblock sich festigen. Agieren sie dagegen klug, so findet jedes Land seinen Platz: Polen vielleicht in einer Nische, Tschechien und Ungarn im Zentrum, Estland, Lettland und Litauen in Skandinavien und die Slowakei womöglich an der Seite Österreichs. Sloweniens politische Klasse schließlich hat im Austricksen fremder Zentralgewalten ein solches Geschick, dass ihm niemand beikommt; zu einem Störfaktor aber wird es sich gewiss nicht entwickeln. Für den Notfall stehen in der Region überall genügend historische Ressentiments bereit, die eine störende Blockbildung verhindern können.

Wie stark der westliche Kulturschock nach der Osterweiterung ausfällt, hängt vor allem davon ab, wie gut oder schlecht die im Osten den ihren bewältigen. In Ungarn sorgt zurzeit eine Verordnung für Aufregung, von der in Deutschland kaum jemand etwas ahnt: Schweine dürfen laut EU-Richtlinie nicht mehr mit Küchenabfällen gefüttert werden. Ein Schwein aber gibt es im ländlichen Ungarn fast in jedem Haushalt und wer in der Stadt lebt und selber keines hat, füttert das der Eltern. Die Ungarn sind zurzeit noch unschlüssig, ob sie die Vorschrift beachten oder ignorieren sollen. Noch haben sie Europa nicht richtig kennen gelernt. Wer den Erfolg der Osterweiterung messen will, sollte in fünf Jahren durch Ungarn fahren und die Schweine zählen. Der Schock ist überwunden, wenn es noch fast genauso viele sind und niemand mehr über Küchenabfälle redet.


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