Hoffnung auf Frieden: Dzevad Karahasans Roman „Einübung ins Schweben"
Sarajevo Dzevad Karahasans Roman „Einübung ins Schweben“ erzählt von der Belagerung Sarajevos im Jahr 1992. Dabei wirft der Autor einen etwas anderen Blick auf den Jugoslawienkrieg und beweist einmal mehr, dass er ein Schriftsteller von Weltrang ist
Schmerzhaft und präszise schreibt auch Dzevad Karahasan
Foto: Joel Robine/AFP via Getty Images
Als Peter Hurd Ende März 1992 zur Präsentation seines neuen Buches nach Sarajevo kommt, bricht dort gerade der Krieg aus. Noch kann man raus aus der belagerten Stadt, wenigstens wenn man Brite ist und Geld hat. Schon am Busbahnhof entscheidet Peter sich aber doch, zu bleiben. „Grenzsituationen sind wertvoll“, erklärt der Intellektuelle seinem hier ansässigen Kollegen und Gastgeber Rajko seinen Entschluss. „Hier kann ich mein wirkliches Selbst kennenlernen, kann die Authentizität entdecken, kann entdecken und begreifen, wer ich bin und wie ich tatsächlich bin.“ So beginnt ein Experiment, das Peter Hurd an seine Grenzen führt.
Peter Hurd, der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler, Essayist, Dichter, wird reichlich bewundert, unter a
t, unter anderem vom deutlich jüngeren Rajko, den er immer wieder mit seinem Scharfsinn begeistert – den er aber schon bald mit deplatzierten Bemerkungen irritiert. Da fragt sich Peter im Kreise Hungernder, ob nicht Angst, Hunger und Durst „den Genuss derer, die sich dem Genuss hingeben können, verstärkten“. Als einmal jemand bemerkt, dass die Häuser leer und die Friedhöfe voll werden, ruft Peter aus: „Der Tod wächst!“, und freut sich über das hübsche Paradoxon.Bei Rajkos Mutter Ljuba, in deren Haus die beiden Dichter wohnen, wächst auch das Entsetzen über den Gast mit seinem fremden, empathielosen Blick auf das Geschehen um ihn her. Peter preist die inneren Freiheiten, die der Krieg ihm eröffnet. „Mann, ich kann den Kaffee nicht genießen, wenn in der ganzen Nachbarschaft nur ich welchen trinke“, entgegnet ihm Ljuba. Peter kifft exzessiv, treibt sich in der breiten Rauschgiftszene Sarajevos herum, und schließlich fängt der 60-Jährige sogar etwas mit Rajkos jugendlicher, verstörter Cousine an. Rajko, der Ich-Erzähler, beobachtet erschrocken den moralischen, geistigen und körperlichen Verfall des Freundes. Auf den Grund seines Selbst, wie er dachte, kommt Peter nicht. Er verliert jeden Boden unter den Füßen. Bis er schwebt.Dževad Karahasan ist Meister der literarischen SyntheseMit seinem Rajko indessen führt Dževad Karahasan uns durch das Elend der belagerten Stadt, wo jeder zu jeder Zeit Opfer eines gelangweilten Scharfschützen werden kann. Was der Ich-Erzähler im Kreis seiner Verwandten und Freunde erlebt, gehört zum Eindringlichsten, was über den Krieg nicht nur in Bosnien, sondern über den Krieg überhaupt geschrieben wurde. Ein alter Herr, der stets übertrieben förmlich auftritt und so das Gegenbild zum enthemmten Peter abgibt, wird von einer Granate in Stücke gerissen; seine winzigen Überreste leuchten wie Blüten an den umstehenden Bäumen. Ein anderer nimmt sich, als ihm schutzbefohlene Kinder umkommen, an Ort und Stelle das Leben, indem er sich die Schlagadern aufbeißt. Eine frühere Freundin Rajkos verstummt und stirbt, wie eine Kerze erlischt. Eine Frau erschießt ihren Mann auf Verlangen. Die Gesellschaft teilt sich radikal in Selbstlose und Raffgierige. Schmerzhaft präzise beschreibt Karahasan auch kleine Szenen – etwa wie die Freundin in Zagreb über Menschenrechte monologisiert, aber partout nicht fragen will, wie es dem Freund, der gerade aus der eingekesselten Stadt kommt, dort ergangen ist.Nach einem halben Jahr ist Peter am Ende, und Rajko organisiert für ihn und für sich die Ausreise. Die Serben im Belagerungsring, die die beiden aufnehmen, hofieren den berühmten Briten und lassen ihn sogar einmal auf die Stadt schießen. Schließlich reist Peter mit Rajko aus nach Sizilien, wo der Brite residiert. Dort bereut er, nachdem er seine Disziplin einmal seiner fragwürdigen Freiheit geopfert hat, sein Verbrechen zwar. Aber er kommt nicht wieder zu sich.Kriegsliteratur wurde in Deutschland zuletzt in den 1920er-Jahren geschrieben. Pazifisten und Bellizisten, Ernst Jünger oder Erich Maria Remarque, mochten verschieden werten: Das prägende Fronterlebnis gaben sie doch in ähnlichen Szenen wieder. Karahasan eröffnet 100 Jahre später einen anderen Blick. Seinen Peter veredelt der Krieg weder, noch desillusioniert er ihn: Er macht ihn zum Täter. Für den Leser ist Peters Beispiel eine Herausforderung. Es ist das Freiheitsverständnis eines liberalen Humanisten, das ihn in die Abgründe seiner Seele führt. Dass er sein Scheitern selbst reflektieren kann, macht es nicht besser; am Ende vergleicht er sich mit dem Spanier Unamuno, der als Liberaler zum Faschismus konvertiert, seinen Irrtum erkennt, den Weg zurück aber nicht mehr schafft.Der 70-jährige Dževad Karahasan ist das rare Beispiel für einen ideellen Gesamtbosnier, in Gefühl und Gedanken greift er aus zu den Derwischen in der Türkei wie zu den Rationalisten in Deutschland oder England, deren Sprachen er perfekt spricht. Als Kind einer muslimischen Familie wuchs er in kroatischer Umgebung auf, sog orientalische Mystik und abendländische Philosophie auf. Mit einer Serbin verheiratet, verbrachte er fast das ganze erste Kriegsjahr in Sarajevo. In seinem Tagebuch der Übersiedlung (Suhrkamp 2021) nähert er sich in diskursiver, zugänglicher Art dem Genius Loci der Stadt, entzieht sich ihm zugleich. Karahasans großes Thema sind östliches und westliches Denken und Empfinden. Ihm hat er Essays gewidmet. Auch in seinen Romanen ist es immer präsent, nie jedoch als binäre Opposition. So vertreten auch Peter und Rajko nicht zwei Denkwelten. Nicht die Gegensätze ziehen den Autor an; Karahasan ist der Meister der Synthese. Oder, anders gesagt: der Hoffnung auf Frieden.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1