Keine einzige Schlacht

Bosnien-Krieg Am 6. April 1992, auf den Tag genau 51 Jahre, nachdem Jugoslawien von Hitlers Wehrmacht angegriffen wurde, schloss die bosnisch-serbische Armee den Ring um Sarajewo

Der Bosnien-Krieg dauerte im Frühjahr 1992 erst wenige Tage, da begann in den Medien Deutschlands, Frankreichs und anderer EU-Staaten der Streit zwischen "Bellizisten" und "Bellizisten". Die einen wollten die NATO militärisch eingreifen lassen, die anderen nicht. Wer hatte damals eigentlich recht?

Mit ihrer Meinung zur Ursache des Krieges hatten jedenfalls beide unrecht. Die Bellizisten vermuteten das Übel in einer Einmischung des serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic. Ohne den störenden Einfluss aus Belgrad, dachten sie, könnte Bosnien-Herzegowina als Staat von Muslimen, Orthodoxen und Katholiken funktionieren wie viele andere konfessionell gemischte Staaten auch. Man musste nur „Belgrad stoppen“, notfalls mit Gewalt. Bosnien erschien den Bellizisten als Exempel für Diversität. Wer daheim gegen den ultrarechten Nationalisten Jean-Marie Le Pen kämpfte und die Brandleger von Rostock-Lichtenhagen verachtete, musste sich auch gegen den „Ethno-Nationalismus“ der bosnischen Serben und Kroaten stellen. Sarajewo wurde zur Märtyrerstadt des multikulturellen Zusammenlebens. Als dessen Garanten galten die aufgeklärten bosnischen Muslime. Sie beschämten mit ihrer toleranten Haltung zugleich das islam-feindliche Westeuropa.
Die Pazifisten dagegen waren eine heterogene Koalition von Interventionsverweigerern. Die deutsche Friedensbewegung hatte erst Jahre zuvor die größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik gegen die NATO-Raketenstationierung zusammengebracht. Sie reichte bis weit in die SPD. Als zwischen Januar und März 1991 die Amerikaner unter George Bush senior im Irak intervenierten und Kuwait von der Armee Saddam Husseins befreiten, war die Bewegung noch einmal kurz aufgeflammt. Zum Krieg vor der Haustür blieb sie bis auf ein humanitäres Engagement und einige hilflose Gesten stumm. Bester Alliierter der deutschen Pazifisten waren die französischen Konservativen. Sie witterten Separatismus und hielten Belgrad für den Garanten der Einheit Jugoslawiens. Spätestens als in Bosnien auch Muslime und Kroaten gegeneinander kämpften, hatten die Pazifisten überall im Westen die öffentliche Meinung auf ihrer Seite. Offenbar war die „Balkan-Mentalität“ das Problem.

Ethnisch motivierte Vertreibung

In Wirklichkeit stand Bosnien vor einem Dilemma, mit dem auch deutsche oder französische Bellizisten und Pazifisten nicht fertig geworden wären. Zwei Drittel der Bevölkerung – die Muslime und die Kroaten – wollten die Unabhängigkeit von Jugoslawien, das nach dem Auszug Kroatiens und Sloweniens nunmehr serbisch dominiert war. Die Konsequenz aber – einen unabhängigen Staat – wollten weder Serben noch Kroaten. Er blieb das Projekt der Muslime, die weniger als die Hälfte der Bevölkerung stellten. Nicht nur die Sturköpfigkeit aller drei Seiten verhinderte eine Einigung. Es fiel auch niemandem ein gangbarer Kompromiss ein, neutrale Vermittler eingeschlossen.
Die Serben begannen 1992 damit, Muslime und Kroaten aus ihren Mehrheitsgebieten zu vertreiben – sie wollten einen Staat unter muslimisch-kroatischer Dominanz verhindern. Sarajewo wurde bombardiert, um die Muslime in Schach zu halten; die Einnahme der Stadt war nicht das Ziel. Ein halbes Jahr später zogen die Kroaten nach, vertrieben ihrerseits die Muslime und halfen den Serben bei der Belagerung der bosnischen Hauptstadt. Es wurde ein Krieg ohne Feldzüge, ohne Vormärsche, ohne eine einzige Schlacht. Man schoss von Hügel zu Hügel und vertrieb weiterhin Zivilisten. Die Welt schaute zu. Eine UN-Blauhelmmission sorgte dafür, dass die Versorgung nicht zusammenbrach und die Menschen in den entstandenen "Enklaven" nicht verhungerten. Gleichzeitig hielt sie den Armeen die Nachschubwege frei.

1994 beschloss die neue US-Administration unter dem Demokraten Bill Clinton, dem Treiben ein Ende zu setzen. Unter amerikanischem Druck entstand ein Plan, drei ethnisch definierte Territorien zu schaffen und den gemeinsamen Staat als loses Dach zu erhalten. Mit dem stillen Einverständnis Belgrads marschierte die von den USA unterstützte kroatische Armee kontrolliert vor und vertrieb die Serben aus dem Westen Bosniens. Umgekehrt hatten die Serben frei Hand, die muslimischen Enklaven in Ostbosnien zu räumen. Alle drei Armeen sollten als Instrument zur Durchsetzung des Friedensplans agieren. Ihre Aufgabe war, die je andere Bevölkerungsgruppe dort, wo sie künftig nicht mehr leben sollte, in die Flucht zu schlagen. Wie von unsichtbarer Hand wurde die tatsächliche ethnische Landkarte Bosniens der auf dem Reißbrett des Friedensplans immer ähnlicher.

Es war eine fein ausgedachte Intrige, die wie alle ihre historischen Vorbilder misslang. Man instrumentalisiert nicht ungestraft eine fremde Armee. So hielt sich bosnisch-serbische General Ratko Mladic nicht an das stille Agreement – statt die Einwohner der Enklave Srebrenica nur zu vertreiben, brachte er alle Männer um. Das Massaker hatte den Sinn, den geplanten gemeinsamen Staat für alle Zeiten unmöglich zu machen. Erst jetzt intervenierte die NATO, und auch das nur zum Schein. Wieder zogen die Serben sich kampflos zurück. Ein paar Monate später – im November 1995 – besiegelten die Präsidenten Bosniens, Serbiens und Kroatiens auf der Wright-Patterson Air Force Base in Dayton (Ohio) das Ergebnis, das schon mehr als ein Jahr zuvor festgestanden hatte. Bis heute hält sich die irrige Meinung, es sei die NATO gewesen, die mit ihrem Bomben den Krieg beendet hätte. Die Bellizisten durften glauben, sie hätten Recht behalten.
Aber auch die Pazifisten des Jahres 1992 irrten. Die kämpfenden Parteien bluteten nicht einfach aus, wie der inzwischen verstorbene SPD-Politiker Peter Glotz gehofft hatte. Sie kämpfen – mit politischen Mitteln – bis heute weiter, und ohne die End Game Strategy der Amerikaner täten sie es auch heute noch auf militärische Weise. Mit einer glaubwürdigen Drohung hätte die Klausur von Dayton auch schon drei Jahre früher stattfinden können. Möglicherweise wäre es hier und da trotzdem zu Kämpfen und Vertreibungen gekommen. Aber ohne den massiven Beistand aus Belgrad und Zagreb gewiss nicht zu 100.000 Toten.

Staat aus drei Nationen

An der ehrlichen Aufarbeitung des Geschehens von damals hat auch nach 20 Jahren niemand ein Interesse. Der US-Stratege Richard Holbrooke wachte bis zu seinem Tode Ende 2010 eifersüchtig darüber, dass niemand seine Legende von der friedensstiftenden NATO-Intervention in Frage stellte. Bosnien gilt auch heute noch als Beweis, dass man ein noch schlimmeres Blutvergießen nur mit Bomben verhindern kann. Die Pazifisten sollen sich dafür schämen, dass ihnen zu den ethnischen Säuberungen nichts einfiel, und die einstigen Kriegsparteien halten an ihrer Propaganda von damals fest. Das Ergebnis – die vollzogene ethnische Trennung und der Hass zwischen den Volksgruppen – geben ihrer Rat- und Kompromisslosigkeit von damals nachträglich einen Sinn. Dabei halten die muslimischen Bosniaken mit der steten Erinnerung an das Massaker von Srebrenica die Serben moralisch in Schach. Die sehen in jenem Verhalten eine Rechtfertigung dafür, sich vom gemeinsamen Staat fernzuhalten.
Westeuropa steht ratlos vor dem Phänomen, das Nachkriegs-Bosnien einfach nicht zusammenwachsen will. Nicht einmal die Lockung mit dem EU-Beitritt zieht. Wenn die Europäer wüssten, was sie damals falsch gemacht haben, müsste sie das nicht wundern. Nur weil sie die Natur dieses "Staates aus drei Nationen" gründlich missverstanden, haben sie vor 20 Jahren die Bosniaken und Kroaten dazu ermuntert, gegen den Willen der Serben die Unabhängigkeit auszurufen. Nationen kann man nicht überstimmen. Wenn Europa das begriffen hätte, müsste es sich selbst ganz neu organisieren.

Norbert Mappes-Niediek schrieb zuletzt über das Serben-Referendum im Nordkosovo

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