Dokumentationen der stalinistischen Gräuel sind oft schwer zu lesen. Sie kennen keine Helden. Ihre Autoren sind meistens direkte oder indirekte Opfer des Terrors, ehemalige Kommunisten, deren Weltbild im Gefängnis zerbrach und die sich schwer tun, neue Maßstäbe zu finden. Einschätzungen und Analysen tief misstrauend, listen sie lange und ermüdend auf, wer unter welchem absurden Vorwurf wie viele Jahre hier oder dort im Gefängnis verbringen musste - das Muster Solschenizyn. Andere wenden ihren in der Haft verlorenen Glauben und verfassen wilde, manchmal maßlose Pamphlete - das Muster "Schwarzbuch des Kommunismus".
Das Buch von George H. Hodos ist ein seltener Glücksfall. Der Autor, selbst Opfer des ungarischen Rajk-Prozesses, hat im Abstand von 50 Jahren eine sensible, ergreifende und zugleich historisch abgewogene Chronik der stalinistischen Schauprozesse gegen "Titoisten" in den europäischen Satellitenstaaten der Sowjetunion vorgelegt. Die vorgestellten Personen bekommen ein Gesicht, auch wenn die bürokratischen Getriebe der kommunistischen Regimes kaum eines hatten. Hodos interessiert sich vor allem für Biografien - von Tätern, die zu Opfern, und Opfern, die zu Tätern wurden. Berührend sind seine autobiografischen Schilderungen zwischen den einzelnen Kapiteln. Hodos stilisiert sich nicht, sondern spürt auch in seiner eigenen Vergangenheit und der seiner Freunde, der Gläubigkeit gegenüber Stalin und der noblen Idee des Sozialismus, nach Gründen dafür, dass die Verbrechen möglich wurden.
Nach dem Bruch mit dem jugoslawischen Partisanenführer und Parteichef Tito 1948 setzte auf direkten Befehl von Stalin und seinem Exekutor Berija in den kommunistisch regierten Ländern Osteuropas eine Säuberungswelle ein. Das Muster war stets ähnlich: Ein führender Kommunist, meistens ein Spanienkämpfer, ein Jude oder sonst ein nach Stalins Kriterien zweifelhaftes Element, wurde als Haupt einer "Verschwörung" ausgeguckt, politisch isoliert und zunächst wegen minderer Vergehen zur Selbstkritik gezwungen. Dann begannen sowjetische "Berater" mit Hilfe der brüderlichen Geheimpolizei, Menschen aus seinem Umfeld verhaften zu lassen. Sie wurden gefoltert, bis sie "gestanden", gemeinsam mit dem Hauptverdächtigen sowie mit Tito und dem ganzen Imperialismus einen Umsturz geplant zu haben. Die abenteuerlichen Geständnisse mussten auswendig gelernt und in Schauprozessen Wort für Wort aufgesagt werden. Die Täter bedienten sich dabei der revolutionären Loyalität ihrer Opfer, die von der Unfehlbarkeit der Partei tatsächlich überzeugt waren. Der Zweck des Terrors war Stalins Macht; der Vater aller Werktätigen sollte zugleich der Herr über Wahrheit und Lüge sein. Wer gegen die absurden Anschuldigungen auftrat, wurde selber eingesperrt oder ermordet. Wer schwieg, wurde auf alle Zeit zum Mitschuldigen und zum geschmeidigen Werkzeug.
Genau nach Drehbuch verlief die Welle der Schauprozesse nur in Bulgarien, Ungarn und der Tschechoslowakei. In Albanien und Rumänien nutzten die Diktatoren Enver Hoxha und Gheorghe Gheorgiu-Dej, die an Gerissenheit und Brutalität dem großen Vorbild in Moskau nicht nachstanden, die Säuberungen dazu, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. In der DDR konnte, wie Hodos überzeugend darlegt, das Theater nicht in der gewohnten Weise funktionieren, weil die westdeutschen Kommunisten, die man ja nicht einfach einsperren konnte, ihren Part kaum mitgespielt hätten. Eine weitere Ausnahme bildete Polen: Während die Kommunistischen Parteien aller anderen Länder von treuen Stalinisten geführt wurden, stand in Warschau mit Wladislaw Gomulka tatsächlich ein Stalin-Kritiker an der Spitze. Stalin musste keinen Hauptverschwörer finden, um alle anderen auf sich einzuschwören, sondern zunächst den Generalsekretär los werden. Dessen eingeschüchterte Erben schützen Gomulka, um nicht nach ihm selber an die Reihe zu kommen.
Mit Tito hatten die Prozesse in Wahrheit nichts zu tun. Die "Top-Agenten" und "Verräter" der klassischen großen Schauprozesse, der Bulgare Traitscho Kostow, der Ungar Laszlo Rajk und der Tscheche Rudolf Slansky, waren ergebene Stalinisten. In der DDR durfte Ulbricht sich seinen Rivalen Paul Merker als Feindbild aussuchen. Ironischerweise war es in Sofia Kostow, der dem als weltberühmtes Nazi-Opfer unantastbaren Georgi Dimitroff seine Freundschaft mit Tito vorwarf. Dass er trotzdem zum obersten "Titoisten" erkoren wurde, beleuchtet den rein machttaktischen Charakter der Säuberungen. Wirkliche ideologische Differenzen gab es nicht. Als große Krake im phantasierten Spionagenetz musste der Amerikaner Noel Field herhalten, ein idealistisch gestimmter Salonkommunist aus bürgerlichem Hause, der im Krieg als Haupt einer humanitären Quäker-Organisation vielen Genossen das Leben gerettet hatte. Der reale Kommunismus durfte mit seiner Tradition als große Menschheitsidee nichts mehr zu tun haben. Fortan war er mindestens bis zu Chrustschows Geheimrede von 1956 bloß noch Stalinbild plus Polizeigefängnis.
George Hermann Hodos: Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-1954. Aufbau-Verlag, Berlin 2001., 404 S., EUR 10
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