Der Postbote legt ein Päckchen vor die Tür. Drinnen finden sich ein Kästchen mit der Asche des lange verschollenen Bruders und ein idiotischer Brief in Amtsenglisch an den "sehr geehrten Herrn Nächster Angehöriger". Von der undramatischen Eingangsszene in einem kanadischen Städtchen, "dessen Namen Sie noch nie gehört haben", gehen die Gedanken des Erzählers zurück in die gemeinsame Jugend im früheren Jugoslawien, genauer gesagt, in die Vojvodina, nach Novi Sad, das großelterliche Haus am Rande der Kleinstadt Zrenjanin, und auch nach Belgrad. Dort lebten einst zwei höchst aufgeweckte Brüder "serbisch-slowakisch-zinzarischer Abstammung", machten sich ihre Gedanken über die Welt, über Politik, Musik und Literatur und setzten sich mit der Lebenswelt des Jugoslawien der Siebzigerjahre auseinander.
Nur drei Kapitel umfasst dieser handlungsarme, aber sorgfältig durchkomponierte und vergnüglich zu lesende Roman. Er spielt irgendwo in Kanada und handelt von den Erlebnissen und Erinnerungen eines "höheren technischen Beraters", verheiratet mit einer ebenfalls aus Serbien stammenden Frau, einer bekannten Töpferin, die er erst in der Neuen Welt kennen gelernt hat.
Die Kapitelüberschriften zeichnen die Stimmungen nach, die mit den Erinnerungen hoch kommen: "Allegro" zunächst, dann "Largo cantabile" und schließlich "Allegro non molto". Das klingt ein bisschen gezwungen, ist aber durchaus ironisch zu verstehen: "Nein das ist keine Fuge", korrigiert der Erzähler seinen Autor: "Ein Concerto, vielleicht. Am morgen erhielt ich die Überreste meines Bruders in einer verkratzten Blechbüchse: Allegro. Ich erfuhr, dass sein angeschwollenes Herz in den Müll geworfen und zusammen mit der Lunge, der Leber und anderen Innereien verbrannt wurde: Largo cantabile." Im Allegro non molto gehen die Motive dann durcheinander. Um an dem gefühlvoll und klug übersetzten Roman Gefallen zu finden, muss man von Jugoslawien nichts wissen. Die musikalische Struktur, die vielen Anspielungen an Salinger, Poe und Danilo Kis und die zarten Verweise auf Philosophie und Mathematik geben der undramatischen Erzählung noch viele weitere Dimensionen, an denen gebildete Leser ihre Freude haben werden.
Vladimir Tasic ist wie sein Protagonist mit 23 Jahren von Serbien nach Kanada gekommen, vor Beginn der Kriege. Genau wie der Erzähler war er im Jahr 2000, in dem der Roman spielt, 35 Jahre alt - auch wenn der deutsche Verlag aus unerfindlichen Gründen ein falsches Geburtsjahr angibt. Tasic ist zwar nicht "höherer technischer Berater", wie der Erzähler, aber Mathematik-Professor und lebt mit der aus Novi Sad stammenden Töpferin Maja Padrov in dem kleinen Ort Gagetown in New Brunswick, einer Provinz im Nordwesten des Landes. Den zwei Jahre jüngeren Bruder allerdings, der vor ihm aus Serbien fort ging und von dem man bis zur Ankunft des Kästchens nie wieder etwas gehört hat, gibt es in Tasics Biographie nicht: Die Romanfigur ist sein Alter ego. Der Bruder ist, wie so viele seiner Altersgenossen, irgendwann aus Serbien verschwunden, aber anders als der Autor nie irgendwo angekommen. Am 12. Dezember 2000, zwei Monate nach dem Sturz von Slobodan Milosevic, ist der Jüngere tot. Das lässt auf einen gespaltenen Autor schließen: den erst verschwundenen, dann toten, der nach seinem Verschwinden keinen Ort mehr fand, und den lebenden, der sich irgendwo zwischen Erinnerungen und neuer Umgebung einzurichten versucht und uns dabei mitnimmt.
Nach Kanada gekommen ist der Erzähler als "billige Arbeitskraft aus der sogenannten economy of knowledge". Hier lebt er ohne Nostalgie, mit spöttischer Distanz zur Emigrantengemeinde, aber nicht ohne Melancholie und mit einem heiter-ironischen Blick auf die plurale, multikulturelle Welt der Neon-Reklamen. Das scheinbar geschichtslose Kanada sieht er mit den Augen des Europäers. Auch wenn sie einem hier nicht auf Schritt und Tritt begegnet, hat auch New Brunswick eine Geschichte, sogar eine der ethnischen Säuberungen, denen einst die Hälfte der Einwanderer zum Opfer fielen, später dann die Ureinwohner, die flohen, als Tiefflieger aus allen Nato-Staaten über ihren Köpfen übten.
Die Provinz hat sogar eine schaurig-schöne Gründungslegende: Ihr Entdecker, ein französischer Kapitän, setzt seine schwangere Schwester hier in der Wildnis aus, wo sie, ganz wie heute der serbische Schriftsteller in Kanada, "mitten in einer eisigen Einöde, ausgesetzt dem Gekreische der Raubvögel, Gebete ausstößt in seiner nunmehr bedeutungslos gewordenen Sprache und die längst im Ruhestand befindlichen Götter Europas, der Levante oder eine dritten, ebenso illusorischen Heimat um Hilfe anruft".
Balkan- und Europaromantiker werden aus dem Roman keinen Honig saugen können. Das Herz des Autors schlug in Jugoslawien, bevor es nach dem Tode des Bruders mit den anderen Innereien verbrannt wurde. Aber der Verstand ist durchaus in New Brunswick angekommen. Der Erzähler trauert nicht wirklich um den Bruder, er denkt nur viel an ihn. Der Blick zurück in die alte Heimat ist ein durchaus kanadischer, aus dem die jugoslawischen Händel vor allem als europäische erscheinen. Mit den Nostalgikern in Serbien mag er sich nicht gemein machen. Ausgerechnet sie, sagt er, berufen sich am eifrigsten auf die neue pluralistische Beliebigkeit und nutzen sie als Propaganda-Trick, um ihre "tendenziösen Dummheiten" über Geschehnisse wie Srebrenica und den Djindjic-Mord in die Welt zu bringen. In einem Gespräch mit der Belgrader Zeitschrift Vreme hat Vladimir Tasic als neue Haltung eine gesunde Skepsis nach allen Seiten ausgegeben. "Wer behauptet, was da stinkt, sei keine Scheiße, sondern ein Schokoladenriegel, soll seine These darlegen, bevor er das Streitobjekt zum Heiligtum erklärt." Das gelte für Den Haag, für Kostunica, für Washington und sogar auf dem Mond. Simpel eigentlich, aber einleuchtend. Ganz wie alles in New Brunswick.
Vladimir Tasic: Abschiedsgeschenk. Roman in drei Sätzen. Aus dem Serbischen von Patrik Alac. SchirmerGraf , München 2007, 190 S., 17,80 EUR (Titel der serbischen Originalausgabe: Oprostajni dar. Koncerto. Novi Sad 2001)
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.