Wenn die Tür verriegelt ist

Balkan Mit dem Verlust einer EU-Perspektive verschärfen sich in der Region wieder die Konflikte zwischen einzelnen Staaten
Ausgabe 08/2017

Tauwetter heißt es, wenn – wie in diesen Tagen – überall kräftig das Wasser auf die Blechdächer tröpfelt. Aber wenn es taut, heißt das auch: Konflikte brechen wieder auf. Wer in diesen Tagen durch Südosteuropa reist und statt mit Politikern mit kundigen Beobachtern, Zeithistorikern oder Politologen spricht, stößt auf eine vergessen geglaubte Angst. Solange es Hoffnung auf einen Beitritt zur EU gab, nahm niemand die Krisen, die von den kleinen Staaten der Region im Jahresrhythmus produziert wurden, allzu ernst. „Aber sobald diese Idee vom Tisch ist, treten alle Fantasien wie die Verschiebung von Grenzen noch deutlicher wieder aus der Versenkung hervor“, sagt in Sarajevo Srećko Latal. Und komme es hier zu Gewalt, warnt er, sei das in einer Welt ohne klares Machtzentrum gefährlicher für den Weltfrieden, als es das 1991 schon war.

Latal, Analytiker beim internationalen Netzwerk für investigativen Journalismus in Sarajevo, hat als junger Reporter den Krieg der 90er Jahre erlebt. Befürchtungen wie die von neuen Konflikten dieser Art äußert er nicht leichthin. Wenn aber der gegenwärtige Trend anhalte, „dann wird, fürchte ich, die politische Krise in Bosnien-Herzegowina früher oder später durch eine Sicherheitskrise abgelöst“. So viel Erregung herrsche zurzeit, sagt Latal, dass Gewalt rasch auf die ganze Region übergreifen würde. „Sie müssen nur irgendwo einen Faden herausziehen, gleich ribbelt sich der ganze Pullover auf.“ Offiziell gilt seit dem EU-Gipfel von Thessaloniki 2003 noch immer das Versprechen für die Länder des Westbalkan, dass sie Mitglieder der EU werden sollen. Mit Serbien zum Beispiel wird konkret verhandelt. Aber das seien Rituale, ist der Belgrader Historiker und Publizist Branislav Dimitrijević überzeugt.

Über die Folgen, die der Schwund der EU-Perspektive für den Balkan hat, urteilt die mazedonische Albanerin Lura Pollozhani nicht anders als der Serbe Dimitrijević oder der Bosnier Latal. Dass die EU-Kommission 2014 für die nächsten fünf Jahre jede Erweiterung ausgeschlossen habe, sei eine Ohrfeige gewesen, sagt Pollozhani. „Dabei wussten wir sowieso, dass es in den nächsten fünf Jahren nichts wird.“ Nun aber sei die Botschaft gewesen: „Nicht einmal hoffen sollt ihr!“

Stand der Beitrittsverhandlungen

Slowenien

Auftakt Als erste der ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens wurde Slowenien 2004 Vollmitglied der EU und trat 2007 auch der Eurozone bei.

Kroatien

Abschluss Die EU-Aufnahme Kroatiens bildete 2013 den bisherigen Abschluss der 2004 begonnenen Osterweiterung. Verhandelt wurde mit Zagreb fast neun Jahre lang.

Serbien

Warteschleife Seit 2012 firmiert Serbien als Beitrittskandidat. Die Verhandlungen begannen im Januar 2014, stagnieren aber inzwischen.

Bosnien und Herzegowina

Entitätenproblem Bosnien und Herzegowina wurde 2000 von der EU lediglich als „potenzieller Beitrittskandidat“ eingestuft. Ein Grund sind die Spannungen zwischen Sarajevo und der Republika Srpska als serbischer Entität auf dem Gebiet des Landes.

Montenegro

Hängepartie Seit 2010 schon ist Montenegro zum EU-Beitrittskandidaten erklärt. Seither wurden zwar 26 der 33 Beitrittskapitel eröffnet, aber nur zwei abgeschlossen.

Mazedonien

Funkstille Bereits seit 2005 Beitrittskandidat, doch gibt es wegen des Streits mit Griechenland über den Staatsnamen bisher keinerlei Verhandlungen.

Albanien

Anfangsstadium Im Juni 2014 wurde der Kandidatenstatus zuerkannt, doch wegen einer ausstehenden Justizreform erst Ende 2016 mit Verhandlungen begonnen.

Die Regierungen der verschmähten Aspiranten versprühen dagegen weiter Beitrittsoptimismus. Demonstrative Zuversicht kommt sowohl ihnen wie den EU-Ländern zupass. Brüssel darf sich freuen, dass die Kandidaten interessiert bleiben, aber nicht zu sehr drängeln. Und in Belgrad oder Skopje freuen sie sich über den nachlassenden Druck aus der EU, ihre Staaten EU-reif zu machen, die Korruption zu bekämpfen, Reformen in Angriff zu nehmen. Die einen tun so, als wollten sie sich erweitern, die anderen, als wollten sie beitreten.

Stabil sei dieses Verhältnis aber nicht, warnt Florian Bieber, Professor für Südosteuropa, in der EU wie auf dem Balkan selbst ein gefragter Experte. Leidtragender sei die Bevölkerung. Ein wichtiges Motiv für den EU-Beitritt habe mit der Hoffnung zu tun, die eigenen Eliten würden durch Brüssel kontrolliert. Branislav Dimitrijević drückt es drastisch aus: „Als Beitrittskandidat können wir wenigstens sicher sein, dass es unseren Machthabern nicht einfällt, morgen die Opposition ins Gefängnis zu stecken.“

Wohl fließen aus den Töpfen Brüssels erheblich mehr Mittel nach Südosteuropa als aus jedem anderen Machtzentrum. Das „Problem“ aber sei, sagt Florian Bieber, dass man für Gelder aus der EU auch bestimmte Standards einhalten müsse. Bei Mitteln aus China, der Türkei oder den Arabischen Emiraten gebe es mehr Chancen, „dass das Geld dann auf Konten von Politikern oder Geschäftsleuten landet“. Auch ganz grundsätzlich hat die Verheißung, mit der EU einem Club der Reichen beizutreten, vieles von ihrem Glanz verloren. Die kleinen, ärmeren Nationen im Osten – gleich ob EU-Mitglied oder nicht – haben auf dem freien europäischen Markt in kurzer Zeit ein enormes Leistungsbilanzdefizit aufgehäuft, erklärt Dušan Reljiæ, Balkanexperte der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie importierten viel, vorrangig aus Deutschland, exportierten aber wenig. „Der einzige Marktvorteil für Länder wie die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien oder Kroatien ist die billige Arbeitskraft“, so Reljiæ. Damit würden die Osteuropäer in der Einkommensfalle landen. „Man verdient als Industriearbeiter in Ungarn vielleicht 500 oder 600 Euro. Nicht viel für ein Leben in der EU.“ Drohe es mehr zu werden, wandere die Industrie weiter nach Osten.

Ohne EU-Perspektive, meinen die Analytiker der Region einhellig, drohe eine Verhärtung der nationalen Positionen – auf allen Seiten. Der von Brüssel erzwungene Dialog zwischen den einstigen Kriegsgegnern Serbien und Kosovo steht inzwischen vor dem endgültigen Abbruch. Ein schon erreichtes Abkommen, nach dem die serbische Minderheit im Kosovo eine weitgehende Autonomie erhalten soll, erweist sich als nicht durchsetzbar.

Es fehlt nicht an Warnungen

Als einzige Alternative zur EU-Option sehe man im Kosovo den Beitritt zu Albanien, sagt der kosovarische Politologe Jeton Mehmeti; ein Groß-Albanien also. Die Idee ist fester Programmpunkt der stärksten Oppositionspartei in Priština. „Besonders wenn es darum geht, ob wir eine oder zwei Nationalmannschaften haben sollen oder nur eine, wird die Debatte lebendig.“

Unter seinem starken Mann, Premier Aleksandar Vučić, rutscht Serbien allmählich in die Autokratie – nicht so offen wie Mazedonien, dafür umso nachhaltiger. Die Strategie sei, so Branislav Dimitrijević, „bis in die Kapillargefäße hinein die Mechanismen der Macht zu übernehmen“. Oppositionelle werden nicht verhaftet, sie verstummen einfach. Kritische Journalisten müssen mit teuren Zivilprozessen rechnen.

An Warnungen hat es nicht gefehlt. Man möge die Balkanstaaten möglichst rasch in die EU aufnehmen und nicht darauf bestehen, dass sie alle ihre gegenseitigen Konflikte vor dem Beitritt lösten. Das war jahrelang die Formel der Experten. Aber das Fenster der Gelegenheit hat sich wieder geschlossen. Florian Bieber glaubt, es sei kein Zufall, dass heute vor allem Ungarn für die rasche und bedingungslose Aufnahme der Westbalkanstaaten in die EU eintrete. Offenbar hoffe Viktor Orbán auf Verbündete.

In den Fantasien der Ansässigen kommt die EU-Mitgliedschaft schon gar nicht mehr vor. Deshalb empfiehlt Jeton Mehmeti als nächsten Schritt bilaterale Verträge mit EU-Ländern, besonders mit Deutschland, das junge, ehrgeizige Arbeitskräfte suche. Der Bosnier Srećko Latal hält die Bedrohung für den Frieden, die vom Balkan ausgeht, für schon so groß, dass ihr nur mit einer Umgestaltung der EU beizukommen wäre – mit einem Europa der zwei oder mehr Geschwindigkeiten, in dem eine für die Balkanstaaten reserviert werde. Auch Florian Bieber ortet den Ball in der Spielhälfte der EU. Die Diskussion in Brüssel gehe dahin, Beitrittsländern immer mehr und immer höhere Standards abzuverlangen. „Aber es gibt keine Standards auf der Welt, die so hoch wären, dass Rückschritte für alle Zukunft ausgeschlossen wären“ – wie man an den Vereinigten Staaten sehen könne. Stattdessen müsse man innerhalb der Union Mechanismen entwickeln, die greifen, wenn eine Regierung systematisch rechtsstaatliche Normen bricht. „Wenn das gesichert ist“, sagt Bieber, „kann man auch leichter neue Staaten aufnehmen.“

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