„Eine moderne Abendgesellschaft“

Antisemitismus Gerhard von Amyntors Buch „Eine moderne Abendgesellschaft. Plauderei über Antisemitismus“ (1881), neu herausgegeben und mit einem Essay versehen von Martin A. Völker

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Um 1880 herum verstärkten sich im politischen Getriebe des Kaiserreichs die nationalistischen und antiliberalen Tendenzen. Offene Zurschaustellungen von Judenhass waren ebenso an der Tagesordnung wie immer häufiger en passant auftauchende antisemitische Ressentiments in Form von Redewendungen und vermeintlich harmlosen Zuschreibungen. Der Herausgeber Martin A. Völker macht in seinem Gerhard von Amyntors Buch „Eine moderne Abendgesellschaft“ beigegebenem, umfangreichen Essay „RICHTIG LEBEN IM FALSCHEN: ÜBER DIE AUTORSCHAFT DES GERHARD VON AMYNTOR (1831–1910)“ auf diese Tendenz der damaligen Zeit aufmerksam und zitiert entsprechende Belege aus Amyntors Schriften. Deutlich wird, dass Amyntor aus seiner konservativ-liberalen Sicht heraus durch diese Entwicklung die Werte der Aufklärung gefährdet sieht, werden doch seiner Ansicht nach Hass und Vorurteile mit dem Gerede über Toleranz und Gleichheit nur „oberflächlich verkleistert, bis sie [die Judenfrage] immer wieder, ein moralisches, fressendes Geschwür, am Körper der Gesellschaft aufbricht“. (S.62)

Moritz Busch vs. Gerhard von Amyntor

Mit seinem 1881 erschienenen Text „Eine moderne Abendgesellschaft“ schaltet sich Amyntor nun, so führt Völker in seinem Essay weiter aus, in die sich verschärfende Diskussion um die Judenfrage ein, ausgelöst vor allem durch den bekannten Journalisten Moritz Busch. In seinem 1880 erschienenen Buch „Israel und die Gojim. Beiträge zur Beurtheilung der Judenfrage“ stellt sich Busch eindeutig auf die Seite der Antisemiten und behandelt, so Völker, das Judentum ausdrücklich nicht als Religionsgemeinschaft, sondern als Rasse. Amyntors Antwort auf derlei Publikationen ist nun nicht ein theoretischer oder konfrontativer Text, sondern ein von ihm gleichsam „protokollierter“ typischer Dialog auf einer Abendgesellschaft, ausgelöst allein, so Amyntor einleitend, durch das vom Herrn Geheimrath in die Runde geworfene Wörtlein „Semiten“. Die Teilnehmer beziehungsweise Ohrenzeugen der Diskussion um die Judenfrage sind nun neben dem Geheimrath ein Licentiat, eine alte Jungfer, ein Referendarius, ein Centrumsmann, ein Maler, ein Backfisch, ein Lieutnant, ein Arzt, ein Literat, ein Rentier und, ohne das Wort zu ergreifen, die Dame des Hauses und der Autor der vorliegenden Schrift, der nun, quasi im Auftrag eben jener Dame, die Diskussion einer größeren Öffentlichkeit präsentiert, nicht ohne dem Protokoll eine eigene, abschließende Stellungnahme hinzuzufügen.

Die "Judenfrage"

Der Text Amyntors gibt nun, zunächst also in Form eines recht lebendigen Gesprächs, einige prägnante Beispiele für implizit wie explizit judenfeindliche Haltungen, gekontert durch mehr oder weniger deutliche Verwahrungen gegen jede Form des Antisemitismus; auch schwankende und eher undeutliche Positionen sind zu vernehmen. So sieht der Literat „die Juden als eine besonders hochstehende und wunderbar veranlagte Rasse“ (S.17) an, hebt sie also aus der Gesellschaft heraus statt der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Juden längst einen festen Bestandteil in vielen Bereichen der Gesellschaft darstellen. Dies nun gibt die alte Jungfer als einen für sie bedauerlichen Fakt zu bedenken, denn den Juden sei „schon längst eine leider völlige Emanzipation zu Theil geworden“ (S.19) So geht die Diskussion nun hin und her, es werden Fragen gestellt nach der Begabung der Juden, nach der von einigen als pöbelhaft angesehenen jüdischen Presse und ob Juden das Richteramt übernehmen dürfen oder einen hohen Rang beim Militär, je nach Gusto werden Beispiele für jüdische Gentleman angeführt (Moses Mendelssohn) oder für Juden, die, vorgeblich, das Christentum angreifen (Ludwig Börne, Heinrich Heine), der Backfisch fragt, was denn ein Schutzjude sei, dies wird erläutert, der gesetzliche Schutz jeder in Deutschland bestehenden Religionsgemeinschaft wird ins Feld geführt, eine Statistik bemüht, nach der die Juden einen unverhältnismäßig größeren Anteil am Verbrechen hätten als Christen – und so weiter und so fort. Gegen Ende gibt der Text noch zwei Beispiele her für das, was zuweilen Selbsthass der Juden genannt wird, einmal den Rentier, der den Juden bescheinigt, sie taugten „mit oder ohne Taufwasser“ alle nichts (S.36), obwohl er selbst aus einer jüdischen Familie stammt, einmal die ob der Diskussion ängstliche Dame des Hauses betreffend, die ihre mütterlicherseits jüdische Abstammung dem Autor gegenüber offenbart mit der Frage, ob sie denn selbst etwa nicht „mit jenem Blute inficirt“ sei, „das der Herr Licentiat ausrotten oder wenigstens einer allgemeinen Verfolgung preisgeben zu wollen scheint“.

Der gebildete und ungebildete Pöbel

In seiner abschließenden, dem „Protokoll“ angehängten Stellungnahme nun bezieht Amyntor deutlich Stellung. Neben vielen anderen Punkten gibt er zu bedenken, dass die in die Öffentlichkeit getragene Judenfrage an die verhängnisvollen Instinkte der „rohen und gedankenlosen Massen“ appelliere und so über kurz oder lang zur Judenhetze werde. (S.44) Insbesondere warnt er davor, dass mancher „für eine judenfeindliche Agitation wirbt“ und „mit der sogenannten vox populi seinem Vorgehen eine gewisse Berechtigung geben zu können meint“. Ein geschickter Volksredner könne sogar jetzt im Jahr 1881, davon zeigt Amyntor sich überzeugt, die Wiedereinführung der Hexenprozesse plausibel machen, denn der „gebildete und ungebildete Pöbel hat immer Freude am Skandal und schon die gemeine Schaulust verführt ihn zur Grausamkeit“. (S.46f.) Auch die Verantwortung der Presse wird angesprochen, wenn der Autor unmissverständlich schreibt: „Wie empörend ist der Brauch gewisser Zeitungsberichterstatter, wenn es ein von einem Juden begangenes Verbrechen zu melden gilt, stets auf das Wörtlein ‚Jude’ den Nachdruck zu legen!“ (S.51) Am Ende appelliert Amyntor an alle, die, wie er aus Gesprächen weiß, seine Ansichten teilen, „mancher conservative Politiker, manch ein Mitglied des hohen oder niederen Adels, mancher Offizier“, „aus ihren Ueberzeugungen keinen Hehl zu machen und gegen jede Hetzerei offen und rückhaltlos aufzutreten“. (S.54)

Gerhard von Amyntors Buch „Eine moderne Abendgesellschaft“ stellt meiner Ansicht nach eine (Wieder-)Entdeckung dar, die nicht nur Historikern einen profunden (literarischen) Einblick zu geben vermag in die gesellschaftliche Problematik der Frühzeit des Deutschen Reichs, ein Jahrzehnt nach dessen Gründung. Durch die gelungene Dialogführung gelingt es Amyntor, die handelnden Figuren über ihren Typus hinaus zu verlebendigen und über die Zeiten hinweg auch der heutigen Leserschaft spannenden Stoff zu liefern in Form einer Diskussion, die immer wieder auch heutigentags in der ein oder anderen Form auftaucht und der wir uns zu stellen haben. Martin A. Völkers Essay zu Gerhard von Amyntor tut ein Übriges, dieses Buch zu einem unbedingt lesens- und empfehlenswerten zu machen, erfährt die Leserschaft doch einiges über den gesellschaftlichen und auch literarischen Kontext im Deutschland der damaligen Zeit, in dem Amyntors Schriften entstanden. Amyntor selbst schreibt nicht von ungefähr, „wir leben auf einem unheimlich grollenden Vulcan“ (S.49) – eben davon legt nicht zuletzt sein eigenes Buch deutlich Zeugnis ab.

Gerhard von Amyntor: Eine moderne Abendgesellschaft. Plauderei über Antisemitismus. Mit einem Essay herausgegeben von Martin A. Völker, Elsinor Verlag, Coesfeld 2016. ISBN: 978-3-942788-33-5. 100 Seiten. 12,80 €

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