„Es ist kein Wahn, denn der Wahn ist wahr.“

Euthanasie und Roman. Daniel Kettelers Roman „novopoint grün“ schlägt gekonnt den Bogen von den Verbrechen der Nazi-Euthanasieärzte hin zu den Lebenswelten der Nullerjahre in Berlin-Neukölln

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Daniel Kettelers „novopoint grün“ ist von der ersten bis zur (fast) letzten Zeile ganz sicher der Roman zu Kurt Cobains Bonmot „Just because you’re paranoid doesn’t mean they aren’t after you“. Einerseits. Andererseits ist der tote Greis namens Kleinekämper, der sich auf einem Jägerhochsitz mutmaßlich zu Tode hungerte, zu Beginn des Romans ebenso real wie der nach dem Abitur in der ostwestfälischen Kleinstadt Hasenbeken verbliebene Polizeischüler David, der den Fall zusammen mit seinem kurz vor der Rente stehenden Chef Rullkötter untersucht. Eine knappe Pressemitteilung von 2003, dem Roman vorangestellt, zitiert einen Polizeisprecher, es deute nichts auf ein Verbrechen hin. Doch David hat einen Verdacht, denn es zeichnet sich „eine kreisrunde Schürfwunde auf dem bleichen, sehnigen Handgelenk des Toten ab“. Und nicht nur das. Im Tagebuch des Toten findet David bald Hinweise auf dessen Beschäftigung mit dem Thema Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, die durchaus den Verdacht nahelegen, Kleinekämper selbst sei Insasse einer psychiatrischen Abteilung gewesen. Ein Überlebender. Er soll nämlich, so erfährt David auch von Rullkötter, „als Kind mal in nem Heim gewesen“ sein. Und nun der Tod durch Verhungern, die selbe Methode, die die Nazi-Euthanasieärzte wählten statt der zuvor praktizierten gezielten Tötungen, nachdem in Deutschland zunehmend protestiert worden war gegen das Verschwinden psychisch kranker Angehöriger. Die Ärzte gingen über zu einer sogenannten wilden Euthanasie, was hieß, die Patienten mittels „Hungerdiäten“ verhungern zu lassen und ihnen final noch eine Spritze zu setzen, die sie „unauffälliger sterben“ ließ. Sollte also auch etwa bei dem in Hasenbeken als Sonderling bekannten Kleinekämper jemand nachgeholfen haben? Vielleicht sogar einer der Nazi-Ärzte von damals, nun ebenfalls im Greisenalter?

Der Tod und die Provinz

Denn da ist auch noch ein weiteres Indiz, eine Spritzenverpackung, „novopoint grün“, ein Mittel, das gegen körperliche und psychische Erregungs- und Spannungszustände eingesetzt wird. Doch die Verpackung findet nicht David neben dem Hochsitz, sondern der sich nach wenigen Seiten als Ich-Erzähler entpuppende Peter P., Davids bester Freund noch aus Jugendtagen, der in Berlin ein exzessives Leben führt, unter einer bipolaren Psychose leidet und sich nun der Aufgabe widmet, all das aufzuklären und in einen Roman zu gießen. Diese Idee hatte Peter bereits zusammen mit David gehabt, denn nur so würde das, was der Tote offenbar der Nachwelt hat sagen, hat offenbaren wollen, wirklich öffentlich werden können. Bei den Untersuchungen war David nämlich zunehmend gegen Wände gelaufen. Rullkötter hatte befunden, es gäbe Wichtigeres. Akteneinsicht wurde dem Polizeischüler nirgends gewährt. Und dann war auch David gestorben. Suizid. Wahrscheinlich schleichend depressiv geworden, so mutmaßt Peter, und niemand hat’s bemerkt.

Neukölln, Abenteuerspielplatz

Umso dringender muss nun, so erkennt Peter, der Roman geschrieben sein, der Wirklichkeit abgerungen werden, verbunden mit all den Schwierigkeiten, die ein Leben im Berlin der Nullerjahre mit sich bringt. Denn Peter lebt nicht nur ein exzessives, unruhiges und schlafgestörtes Leben in Berlin-Neukölln. Zudem ist er auch noch der Medikation seines Psychiaters Baust ausgesetzt, der selbst mit Künstlerambitionen in Berlin gestrandet ist. Diesem berichtet er von seinem Projekt. Er lässt Peter ein wenig von der Leine, doch Baust ist in Sorge, ob nicht am Ende aus dem Roman mit seinem womöglich realen Kern ein wahnhaftes Projekt werde, mit dem Peter noch tiefer in seine Psychose geriete. Fast folgerichtig bleibt Peter im Schreiben des ersten Teils (1. Buch) stecken, verzettelt sich, verliert die Übersicht, nimmt sich Auszeiten, bis ihm die Idee kommt, sich erzählend nicht nur in seinen toten Freund David zu versetzen, sondern endlich auch in seinen Psychiater Baust. So trampelt der Roman mit viel Vehemenz kurz einmal auf der Stelle, bevor es mit neuer Spannung vor allem mit Baust weitergeht. Zu Beginn des 2. Buches heißt es nämlich: „Ich muss da rein, ins Psychiatersein, mitten rein ins Psychiaterschwein. Diese Geschichte erfordert es. Ich brauche jemanden, in dem ich mich selbst spiegeln kann.“ Von da an geht es Schlag auf Schlag, um die Verbrechen der Nazi-Ärzte und den Versuch der Aufklärung und der Bestrafung, parallel dazu auch um das Psychiatersein, das Künstlertum, die Literatur und das Leben selbst, wie man es trotz allem gerne lebt. Die Schlusspointe, wenn man sie denn als Pointe aufzufassen gewillt ist, wird selbstverständlich nicht verraten, bis dahin muss man lesend schon selbst gelangen.

Schriftstellerarzt

Daniel Ketteler, als Schriftsteller und Psychiater Teil einer langen Tradition an Schriftstellerärzten von Tschechow über Bulgakow, Büchner, Schnitzler, Benn und Döblin, legt nach „Grauzone“ (2012) mit „novopoint grün“ seinen zweiten Roman vor. Dieser ist durchaus kein Kriminalroman, was der Spannung jedoch keinen Abruch tut. Insgesamt ist Daniel Ketteler ein – trotz der Euthanasie-Thematik – süffig zu lesender Roman gelungen, dem das Fachwissen und die Erfahrungen eines Arztes im besten Sinne zugute kommen. Die westfälische Herkunft des Autors und das Leben in Berlin prägen indes unverkennbar den sprachlichen Duktus Kettelers. Die drei Hauptcharaktere, vor allem der Erzähler, werden im Laufe des Romans so immer mehr zu dem, was man in der Literaturwissenschaft ein gelungenes poetisches Ich heißt, und dies in einem Roman, den man mit vollem Recht zugleich einen Berlin- und einen Provinz-Roman nennen darf – auch dies im besten Sinne!

Daniel Ketteler: novopoint grün. [ein Roman]. Launenweber Verlag, Köln 2018. 312 Seiten. Gebunden, Fadenheftung, Leseband. 25 €. ISBN 978-3-947457-00-7. https://www.launenweber.de/

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