Kein Weg aus der Eskalation

Gastkommentar Merkels Knesset-Rede und die Palästinenser

Wenn drei Viertel der Palästinenser die Beendigung der Verhandlungen zwischen dem Präsidenten der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, und den Israelis fordern, weil sie ergebnislos verlaufen, und 64 Prozent den Beschuss Israels mit Raketen vom Gaza-Streifen aus befürworten, ist unser Bild von Palästina offenbar korrekturbedürftig. Wenn das Palestinian Center for Policy and Survey Research in der gleichen Umfrage feststellt, dass Abbas bei Präsidentenwahlen nur noch 46 Prozent der Stimmen (vor drei Monaten 56 Prozent), Ismail Haniyeh aber 47 Prozent (vor drei Monaten 37 Prozent) erhalten würde, scheint auch die Rechnung der Annapolis-Strategen nicht aufzugehen. Nie zuvor hat eine Mehrheit die Beendigung der Gespräche und den Beschuss Israels befürwortet. Alarmierend ist auch, dass 86 Prozent der Bevölkerung den Anschlag vom 6. März gegen die Yeshiva-Schule in Jerusalem gut heißen, bei dem acht Schüler erschossen wurden. Die Wut, die aus dieser Umfrage spricht, so das Palestinian Center, ist ähnlich wie zur Zeit der zweiten Intifada von 2000. Nie gab es eine größere Unterstützung für Gewalt in den vergangenen 15 Jahren.

Die Ursache dieses für alle Seiten katastrophalen Ergebnisses sieht das Institut in den rund 130 Toten, die die jüngsten Angriffe der israelischen Armee in Gaza gekostet haben, den vier Männern, die eine israelische Gang vor zwei Wochen in Bethlehem erschossen hat, und in der Ankündigung, die Siedlungen weiter auszubauen. Nichts hat sich seit Annapolis und Paris für die Bevölkerung geändert, niemand glaubt an den Friedenswillen der Regierung von Ehud Olmert. Die 150 Millionen US-Dollar, die George W. Bush dieses Jahr dem Haushalt der Palestinian Authority überweist, werden ebenso wirkungslos in ungeklärten Kanälen verschwinden wie jede Budgethilfe bisher. Selbst der WF ist überzeugt, dass der in Paris beschlossene Transfer von 7,2 Milliarden US-Dollar keine nachhaltige Besserung der trostlosen Lage bringen wird. Die Arbeitslosigkeit in Städten wie Kalkilya reicht an die 60 Prozent, mehr als die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung leben in Armut. Da helfen keine Industrieparks, wie von Kanzlerin Angela Merkel mit 20 Millionen Euro Unterstützung für Jenin versprochen.

An Geld fehlt es in den besetzten Gebieten nicht. Hebron etwa hat an die 500 Millionäre. Palästinenser im Ausland haben genug Geld, um es in ihrer alten Heimat zu investieren - sie haben nur keine Möglichkeiten. Das ökonomische Leben wird durch die massiven israelischen Restriktionen, die häufigen Straßensperren und Kontrollen, die allnächtlichen Überfälle, Verhaftungen und Erschießungen durch israelisches Militär, den Mauerbau und die Erweiterung der Siedlungen erdrosselt. Das Eindringen der Siedler in die Altstadt von Hebron hatte die Schließung von 1.600 Läden zur Folge, die Einmauerung von Kalkilya trieb 600 zur Aufgabe, von 4.000 Geschäften in Gaza sind nur noch 100 geöffnet. Der Schlüssel zur Entwicklung Palästinas liegt nicht beim internationalen Geld, den zahllosen Nichtregierungsorganisationen, den unübersichtlichen Hilfsprojekten - er liegt ganz einfach in der Aufhebung der Besatzung.

Niemand hatte erwartet, dass Frau Merkel in ihrer Rede vor der Knesset diese Forderung erheben würde. Niemanden habe ich getroffen, der Anstoß an ihrem Eintreten für die Sicherheit Israels genommen hat. Unverständnis und Empörung aber löste die Einseitigkeit ihrer Erklärung aus, die mit keinem Wort die historischen Opfer der Palästinenser, die desolate Lage vor allem im Gazastreifen oder die deutsche Verantwortung auch für einen palästinensischen Staat erwähnte. Selbst die israelische Presse hat die Einseitigkeit einer Rede kritisiert, von der keine Idee, keine Hoffnung für einen Friedensprozess ausgeht, der das Ende der Besatzung herbeiführen muss.

Der Autor ist Völkerrechtler und Bundestagsabgeordneter der Linkspartei

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