deutsches Tagebuch, Weihnachten

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Es ist so: Meine Mutter ist nun in einem Pflegeheim.Sie ist 96 Jahre alt. Es geht nicht anders. Schlaganfall und schwere Demenz. Das Sprachzentrum ist zerstört. Rollstuhl permanent, die rechte Seite gelähmt. Aber sie erkennt ihre Kinder. Also auch mich. Sie genießt es, wenn ich ihre Fingenägel feile, dann hat die Berührung einen Sinn, so ist diese Generation geb. 1914. Ich war dann in meinem Elternhaus ein paar Tage ganz allein mit der Vergangenheit und fand Briefe, ganz alte von 1931, aber auch welche von 1934. Da war ein jüngerer Bruder meiner Mutter, der 1931 an einer Menengitis Enzephalitis erkrankte, schwer, bekannt als "spanische Grippe". Der Junge schleppte sich Jahre durch's Leben, alle litten mit ihm und 1934, gerade eingestiegen in die HJ, starb er dann doch, an einer Lungenentzündung. Die Beerdigung muss riesig gewesen sein. Ich sehe das an den vielen Kondolenzbriefen, die ich fand. Und etwas Verbotenes habe ich auch gefunden: eine Hakenkreuzschärpe, die über dem Sarg gelegen hatte. Ich habe sie eingepackt und mitgenommen. Nach seinem Tod erkrankte eine ältere Schwester meiner Mutter an TBC. Keine Heilung möglich. Wieder jahrelanges Martyrium, für die ganze Familie, Ende Tod der Schwester. Die Erinnerungen meiner Mutter an ihr Leben enden mit dem 12ten Lebensjahr.

Weihnachten holen wir sie zu uns. Wir holen sie oft. Da, wo sie ist, sind viele Demente. Sie sitzen um einen Tisch und rufen, klopfen, sabbern, schlafen, grunzen.

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Geschrieben von

Novalis

lebt halb in Frankreich, halb in Deutschland, suchte die Blaue Blume, fand sie und erkannte, dass Realität Illusion ist und Illusion Realität.

Novalis

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