Jamal,

fast eine Weihnachtsgeschichte

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Clara Dorian betrat mit Angst das Klassenzimmer der 3c in der Willy Brand Grundschule, Berlin Neukölln. Es war ihre erste Anstellung nach ihrem zweiten Lehrerexamen und sie war maßlos enttäuscht, als sie das Schreiben der Schulbehörde öffnete und las, wo sie ihre erste Stelle antreten sollte. Sie versuchte mit allen Mitteln, doch noch in einem anderen Teil Berlins eine Stelle zu finden.

Es war zwecklos und doch hatte sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Das Versetzungsgesuch hatte sie schon fertig formuliert im PC gespeichert. Aber vorerst musste sie durchhalten.

So stand sie dann, eines Morgens im September, nach den großen Ferien, mit Herzklopfen und feuchten Handflächen vor 25 Jungen und Mädchen, von denen kaum einer das Alter von Drittklässlern hatte. Die meisten sahen sehr viel älter aus. Dunkeläugig, schwarzlockig, die Mädchen mit Kopftuch. Aus den anderen Klassenzimmern, in denen die Stunden schon angefangen hatten, drang johlender Lärm zu ihr herüber, so, wie sie das befürchtet hatte.

Nur, in ihrer Klasse herrschte eine gespenstige Stille. Die Kinder sahen sie aufmerksam an, ohne sich zu rühren. Was war mit dieser Klasse los? Niemand hatte sie gewarnt. Der Rektor hatte sie am Morgen fahrig begrüßt, er hatte vergessen, dass sie, Clara Dorian, heute ihren Dienst antreten würde. Den anderen Kollegen und Kolleginnen fiel es nicht auf, dass eine neue Kollegin da war.

Die schweigende Klasse im Rücken , schrieb sie ihren Namen an die Wandtafel und erwartete unruhig einen Angriff aus dem Hinterhalt. Nichts geschah. Sie drehte sich um und lächelte die Klasse hilflos an, obwohl sie wusste, dass genau diese Hilflosigkeit ihr zum Verhängnis werden könnte, denn es gibt die eiserne Regel für Lehrer: zeige niemals Unsicherheit.

Da. Endlich. Ein Finger ging in die Luft. Ein Junge, er mochte 10 Jahre alt sein, er hatte dunkelblonde, kurze Haare, stand auf und sah sie fragend an. "Was möchtest du sagen?", fragte sie ihn mit fast zitternder Stimme. Der Junge antwortete ruhig und besonnen:" Frau Lehrerin, Sie wissen wollen, warum wir so still? Ich Sie sagen warum", und er zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf einen Jungen, der am Fenster saß, "Jamal ist Grund, Sie müssen ansehen ihm!"

Clara Dorians Blick folgte dem ausgestreckten Finger und blieb erstaunt an dem haften, was sich ihren Augen darbot:

Der Junge am Fenster hielt seinen Kopf gesenkt, die Sonne hatte sich in seinen schwarzen Locken verfangen und ihre Strahlen schienen mit der Umgebung zu spielen.

"Ihm sagen, soll ansehen Sie, dann wissen warum", hörte sie die ruhige Jungenstimme.

Clara brauchte diesen Jungen nicht aufzufordern, er hob sein Gesicht und sah sie an.

Clara Dorian vergaß das Atmen.

Aus einem feinen, bräunlichen Oval leuchteten ihr zwei strahlende, von einem dichten, schwarzen Wimpernkranz umgebene, helle graue Augen, die sie mit einer Freundlichkeit und Wärme anlachten, die sie schwindelig werden ließ, so dass sie Mühe hatte, fest auf ihren Füßen zu stehen.

"Sehen, Frau Lehrerin, wenn Jamal ansehen ist komisch gut, nicht?", kam es altklug von dem Jungen, der sich dann mit Viktor vorstellte und seine neue Lehrerin mit Interesse beobachtete. Auch die anderen Kinder nahmen ruhig und freundlich an dem Geschehen teil.

"Hallo, Jamal , also äh, ja, hm, also , ja ...", begann sie von neuem. Ein Mädchen mit Kopftuch meldete sich, stand auf und erklärte:" Jamal kann nicht sprechen, er wird Ihnen nicht antworten." Sie setzte sich wieder.

Clara konnte sich nur mit Mühe von diesem Gesicht lösen. Sie empfand immer noch diese seltsame, unbekannte Schwerelosigkeit und eines war ihr klar geworden, dieser Junge brauchte nicht zu reden, ohne Worte glättete und besänftigte er seine gesamte Umgebung. Ja, es schien als wäre die Luft um ihn herum besser geeignet zum Atmen als anderswo. Sie fühlte sich leicht und wohl.

Als es zur Pause klingelte und die Kinder, ohne übereinander herzufallen aus dem Klassenzimmer auf den Schulflur gingen, folgte sie ihnen. Jamal war umgeben von einer Gruppe von Kindern um sich herum, sie bildeten einen richtigen Schutzschirm. Er war größer als die meisten Kinder und er drehte sich um und sah Clara mit seinen hellen, grauen Augen an, die sie deutlich aufforderten: Bleib!

Clara wird ihr Versetzungsgesuch gleich nach der Schule in ihrem PC löschen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Novalis

lebt halb in Frankreich, halb in Deutschland, suchte die Blaue Blume, fand sie und erkannte, dass Realität Illusion ist und Illusion Realität.

Novalis

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