45 Prozent der Teenager geben an, aktuell mit der Lektüre eines Buches beschäftigt zu sein
Foto: Astonj Shkraba/Pixels
Im zweiten Stock einer Berliner Buchhandlung füllen sich die Reihen. Vor der Bühne stehen etwa siebzig schwarze Klappstühle, daneben eine Fotowand, betont instagramtauglich in Pastellfarben. Die meisten hier müssten wohl morgen zur Schule, wären nicht gerade Osterferien. Die Ältesten sind etwa Mitte zwanzig. Von ihnen allen heißt es, sie würden einer Generation angehören, die nicht mehr liest. Nachdem die Social-Media-Managerin der Buchhandlung den Livestream auf Instagram gestartet hat, kann es losgehen.
Die Romane der Autorinnen Antonia Wesseling und Sarah Stankewitz ähneln sich. Im Mittelpunkt stehen junge Frauen, gerade ins Erwachsenenalter eintretend, die durchs Leben stolpern und auf einen Mann treffen. Selbstbehauptung, Herzschmerz, I
hs Leben stolpern und auf einen Mann treffen. Selbstbehauptung, Herzschmerz, Identitätssuche. Beide Protagonistinnen haben mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen. New Adult heißt dieses Genre, neue Erwachsene. Mentale Gesundheit ist hier immer häufiger Thema. „Irgendwann hat man das Muster der Geschichten raus“, so erklärt es eine Besucherin der Lesung, die Bücher dieser Art seit Jahren liest. „Dann ändern sich nur noch die Namen der Figuren, die Orte – und die psychischen Krankheiten.“Vor etwa zehn Jahren tauchte das Genre zum ersten Mal auf. Inzwischen verfilmen Hollywood und Netflix erfolgreich New-Adult-Reihen, hierzulande stand Antonia Wesselings Roman Wenn ich uns verliere auf Platz 13 der Spiegel-Bestsellerliste. 2012 titelte die US-amerikanische Fachzeitschrift Publisher’s Weekly noch: „New Adult: nutzloser Marketingsprech oder wertvolles Subgenre?“ Inzwischen fragt das in der Branche niemand mehr, am allerwenigsten Verlage wie Ullstein-Ableger Forever, der laut Website „sehnsuchtsvolle und diverse New-Adult-Geschichten“ verlegt. Darunter auch die von Wesseling und Stankewitz.Zitateraten mit SchlafmaskeDie Autorinnen grüßen, plaudern über die Anfahrt und erklären die Spielregeln des ersten Programmpunkts: „Wer hat’s erlebt?“ Eine von ihnen sei in der Mottowoche im Abitur mit dem falschen Kostüm zur Schule gefahren. Helles Gelächter im Publikum. Per Handzeichen wird geraten, welcher der beiden es passiert ist. Von den Büchern ist zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede. Vielleicht 20 Minuten dauert das Spiel, dann wird erstmals gelesen. Es sind jeweils die Szenen, in denen das Paar sich kennenlernt. Bei Wesseling schnappt ein Leo einer Studentin nach einer vermurksten Hausparty das Taxi vor der Nase weg, bei Stankewitz verirrt sich der Hund einer Londoner Straßenmusikerin in den Tourbus einer gefeierten Band. Wieder ein Spiel, wieder eine halb so kurze Leserunde. Am Ende bitten sie ihre Lektorin auf die Bühne. Tabea Horst wäre im Publikum altersmäßig kaum aufgefallen. Aus beiden Büchern liest sie Zitate vor und die Autorinnen, Schlafmasken über den Augen, müssen sagen, aus wessen Feder sie stammen.Fast alle stellen sich nach der Fragerunde in die Schlange vor der Fotowand. Einige der Ergebnisse wird man später auf Instagram finden, „Die Lesung von Toni war wirklich toll“, wird da ein 20-Jähriger schreiben. Toni, das ist Antonia Wesseling. Für Tabea Horst ist es diese Nähe, die Lesungen in diesem Segment einzigartig macht. „Der Austausch zwischen Autorin und Publikum steht im Vordergrund, es sollte im Idealfall keine zu große Ehrfurcht oder Distanz entstehen“, sagt sie später im Gespräch. Was man erzeugen wolle, sei „das Gefühl: Die sind ja auch wie du und ich“.Schaut man sich die Internetauftritte der Frauen genauer an, entsteht zunächst ein anderer Eindruck. Wesseling etwa folgen auf Instagram 25.000 Menschen. Auf den ersten Blick könnte der Account einer klassischen Influencerin gehören. In durchdachten Farbkonzepten inszeniert die 23-Jährige Blumen, ihre Wohnungseinrichtung, sich selbst. Dazwischen immer wieder Werbung. Nur eben nicht für Beautylinien oder Luxusreisen, sondern für Bücher. Bookstagram heißt diese Ecke der sonst als oberflächlich verschrienen Fotoplattform. Und daran kommt auch das wichtigste Feuilleton des Landes nicht mehr vorbei. Bookstagram, das sei „ein Aufbäumen gegen die Wucht des Digitalen mit dessen eigenen Mitteln“, hieß es kürzlich in der FAZ. Das Internet und das Lesen, für manchen Feuilletonisten bleiben sie trotz allem Fressfeinde.Soziale Medien generieren LeserJennifer Maurer leitet die Marketingabteilung von Piper. An dem Satz sei was dran, findet sie. Trotzdem dürfe man Buch und Social Media nicht als Antagonisten verstehen. Die Münchner haben wie Ullstein eine eigene Marke für New Adult mit dem blumigen Namen everlove. „Wir gehen mit einem sehr traditionellen Produkt in eine sehr moderne Welt, wir bedienen uns ihrer Mittel und Technologien im Kampf um die Aufmerksamkeit.“ Bookstagram und das Pendant auf der Kurzvideoplattform Tiktok (Booktok) seien sehr wichtig für die Vermarktung. Gezielt nutze man in der Community beliebte Hashtags und pflege ein handverlesenes Netzwerk von Bloggerinnen und Bloggern, „mit denen wir eng zusammenarbeiten und die wir in unsere Entscheidungsprozesse einbinden“.Aber begeistert man so auch die, die sonst vor Netflix gehangen hätten? Vielleser bildeten zwar den Großteil der digitalen Buchgemeinde, räumt Jennifer Maurer ein. Die wachse aber „rasant“, und das nicht ohne Grund. „Vor allem durch Hypes und Trends sowie passende Multiplikatorinnen mit Vorbildfunktion erreichen wir auch neue junge Menschen, die dann zum Buch greifen.“Auch Lektorin Tabea Horst betont diese Funktion des bibliophilen Netzwerks: „Leserinnen werden Bloggerinnen werden Autorinnen.“ Menschen wie Wesseling und Stankewitz seien „große Vorbilder“ im besten Sinne des Wortes: „Die Nahbarkeit ist deshalb so wichtig, weil sie zeigt: auch ich kann das schaffen.“ Social Media mal zur Abwechslung nicht als Brutstätte jugendlicher Selbstzweifel, sondern als Fenster in die eigene Zukunft – bestechend. Aber ein Verlag ist keine Charity-Organisation. „Es ist für die Vermittlung der Bücher wichtig, dass die Autorinnen auch Teil dieses Netzwerkes sind“, sagt Horst. „Das ist schon etwas, was bei der Akquise bedacht wird.“Ob nun wegen Bookstagram und Booktok, wegen neuer Genres oder etwas ganz anderem: die Jugend scheint tatsächlich wieder mehr zu lesen. Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest erhebt jährlich den Medienumgang der Zwölf- bis Neunzehnjährigen. Der Wert der regelmäßigen Leser, ein Drittel, sei in den letzten Jahren recht konstant geblieben, während der Anteil der Jugendlichen, die nie lesen, immer weiter sank, zuletzt auf 15 Prozent im Jahr 2022. 45 Prozent der Befragten gaben an, aktuell mit der Lektüre eines Buches beschäftigt zu sein. Zwischen Klassikern, Sachbüchern oder Unterhaltungsromanen wird hier nicht unterschieden.Fotografieren geht über SignierenWorum macht sich eine Gesellschaft, in der 85 Prozent der Jugendlichen angeben, zumindest einmal im Monat zu lesen, überhaupt Sorgen? Vielleicht darum, dass 40 Prozent schon einmal etwas gekauft haben, weil ein YouTuber oder eine Influencerin es empfohlen hat. Nach Gesprächen mit Freunden die zweitwichtigste Informationsquelle: YouTube. Der Anteil der Jugendlichen, die täglich oder mehrmals pro Tag YouTube nutzen: 38 Prozent.Tatsächlich kommt man sich ein wenig vor, als hätte man gerade das Challenge-Video eines Influencer-Freundinnenpärchens ausgeschaltet, während die Berliner Buchhandlung sich langsam leert. Und schwankt zwischen Freude darüber, dass Jugendliche sich für Bücher begeistern lassen, und Bauchschmerzen angesichts der Maßnahmen, die dafür offenbar nötig sind. Geht es wirklich nicht anders – irgendwie ernsthafter? Oder muss es das gar nicht? Die Social-Media-Affinität des Publikums beeinflusse die Art und Weise, wie Dinge aufgenommen werden, erklärt Tabea Horst. „Wenn eine Lesung spielerischer inszeniert wird, fällt es nicht nur leichter, die Aufmerksamkeit zu halten, sondern es lässt sich auch besser Content daraus kreieren.“ Klassische „Wasserglas-Lesungen“ seien eben statisch und wenig bildstark. „Ein interaktiveres Happening lässt sich besser fotografieren und hinterher teilen. Das Publikum zeigt damit den eigenen Followerinnen und Followern: Ich habe hier an etwas Besonderem teilgenommen.“Nachdem alle, die wollten, ein Foto vor der pastellfarbenen Wand bekommen haben, wird es dann noch einmal traditionell. Die Autorinnen signieren die vom Publikum mitgebrachten Bücher. Da ist die Schlange nur noch halb so lang.Placeholder infobox-1