Migration Die EU-Asylreform rückt in greifbare Nähe. Was menschenrechtlich nicht passt, wird passend gemacht. Welche Änderungen kommen und warum das erst der Anfang einer völligen Entrechtung sein dürfte
Schutzsuchende in einem Erstaufnahmelager in Roccella Ionica, Italien
Foto: Valeria Ferraro/Imago/Zuma Wire
Habemus Verhandlungsposition. Europa steht in der Asylpolitik so zerstritten da wie eh und je, aber jetzt weiß immerhin die Ampel-Koalition, was sie will. Im Rat der Mitgliedstaaten will man sich bis Juni einigen, danach soll mit dem EU-Parlament verhandelt und das Reformpaket bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2024 fertiggestellt werden. Mit ihrer Einigung von Ende April, deren Details die FAZ in Erfahrung bringen konnte, führt die Bundesregierung einen sogenannten Kompromiss in die Verhandlungen ein, der noch vor wenigen Jahren als CSU-Hardlinerposition galt.
Mittelmeerstaaten sehen sich überfordert
Ausgangspunkt des Streits innerhalb der EU ist, dass Staaten an den Außengrenzen – vor allem am Mittelmeer und auf dem Balkan – seit Jahren
t des Streits innerhalb der EU ist, dass Staaten an den Außengrenzen – vor allem am Mittelmeer und auf dem Balkan – seit Jahren Überlastung beklagen, ohne ernsthafte Hilfe vom deutlich reicheren Mittel- und Nordeuropa zu erhalten. Formal sind sie für Asylanträge von Geflüchteten zuständig, die dort erstmals EU-Territorium betreten. Das Abkommen gilt inzwischen als de facto hinfällig, da viele Migranten noch vor Antragstellung weiter in den Norden reisen und daran von den Grenzstaaten nicht gehindert werden. Normalerweise kann der neue Aufenthaltsstaat den Betroffenen in diesem Fall in das Land der Ersteinreise rücküberstellen. Italien hatte sich Presseberichten zufolge zuletzt geweigert, bei diesen Rücküberstellungen zu kooperieren – angeblich wegen technischer Probleme.Die eigentliche Hürde liegt aber, zumindest aus deutscher Sicht, woanders. Der Staat der zweiten Einreise hat nach aktuellem Recht nur sechs Monate Zeit, den Betroffenen zurückzuschieben, danach geht die juristische Zuständigkeit auf ihn über. Der Bundesregierung ist das zu wenig.Sie will die Frist für den Zuständigkeitsübergang auf zwölf Monate verlängern. Selbst, wenn diese Frist bereits verstrichen ist, sollen in jedem Fall sechs Monate für die Überstellung Zeit sein, wenn der Betroffene im Vorfeld untergetaucht ist. Das bedeutet wesentlich mehr Rücküberstellungen, insbesondere nach Italien. In dem rechtsextrem regierten Land dürfte das nicht gerade auf Gegenliebe stoßen.Menschenrechtlich brisant ist die Einrichtung sogenannter Transitzonen, wozu die Ampel nach FAZ-Informationen „grundsätzlich bereit“ sein soll. Die Kommission hatte das bereits in einem Vorschlag Ende 2020 angeregt – und davor der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). In diesen Zonen soll nach einer beschleunigten Asylprüfung innerhalb von höchstens zehn Tagen die Frage geklärt sein, ob Schutzbedarf besteht. Hat der Asylantrag keine Aussicht auf Erfolg, ergeht gleichzeitig mit dem negativen Bescheid die Rückkehranordnung. Andernfalls darf der Betroffene in das EU-Hoheitsgebiet einreisen.Wer mitdenkt, wird über den letzten Satz gestolpert sein. Wären die Betroffenen nicht bereits auf dem Hoheitsgebiet der EU, könnte die ihre Gesetze gar nicht auf sie anwenden. Wie kann das sein? Hier kommt die sogenannte Fiktion der Nichteinreise ins Spiel. Das bedeutet, dass ein Mensch juristisch als in einem Staat abwesend gilt, obwohl er sich physisch auf seinem Territorium aufhält und der Gewalt seiner Behörden unterliegt. Nur so kann gewährleistet werden, dass menschenrechtliche Mindeststandards insbesondere im Rechtsschutz noch keine Wirkung entfalten.Horst Seehofers Ideen von 2015Ohne massenhafte Inhaftierung wird sich das kaum durchsetzen lassen, denn verlieren die Grenzer die Kontrolle über den Aufenthaltsort der fiktiv-nichteingereisten Person, gilt die Einreise juristisch als vollzogen, Substandardverfahren werden damit illegal. Zwar soll die Haft nur in Einzelfällen angeordnet werden. Wann so ein Einzelfall vorliegt, wie die Anordnung vonstattengeht und wie die Haft konkret aussieht, ist aber den Mitgliedsstaaten überlassen. Die haben, wie etwa Polen und die baltischen Staaten, ihre diesbezüglichen Vorstellungen längst in Form von Grenzmauern in Beton gegossen.Als Horst Seehofer dieses Verfahren Ende 2015 vorschlug, erntete er scharfe Kritik vom Koalitionspartner. Hannelore Kraft etwa, damals Nordrhein-Westfalens SPD-Ministerpräsidentin, sagte gegenüber dem Spiegel, Transitzonen seien Zentren „mit haftähnlichem Charakter“ und damit „für Sozialdemokraten ein No-Go“. Heiko Maas (SPD) als Justizminister bezeichnete die geplanten Zonen als „Massenlager im Niemandsland“, deren Einrichtung er für „praktisch undurchführbar“ halte. Auch die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles wies den Vorschlag mit Nachdruck zurück.Als die CDU noch christlich warSein Urheber war schließlich gezwungen, einzulenken. „Es ist weder eine Haft noch ist da von Stacheldraht oder Ähnlichem die Rede“ erklärte Seehofer. Nach langem Ringen bekam er immerhin die Schwesterpartei CDU dazu, den Transitzonen zuzustimmen – unter Vorbehalt. Von der Idee dürfe man nicht zu viel erwarten, sagte der damalige CDU-Vizechef Armin Laschet gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Gleichzeitig widersprach er Forderungen nach einer Obergrenze, weil die Aufnahme-Kapazitäten erschöpft seien, mit dem bemerkenswerten Satz: „Man wird die Kapazitäten erweitern müssen.“Inzwischen sind knapp sieben Jahre vergangen. In der Migrationsdebatte gab es inzwischen eine kleine Zeitenwende. Dass heute ein CDU-Funktionär angesichts steigender Asylbewerberzahlen ganz selbstverständlich eine Erweiterung der Kapazitäten fordert – schwer denkbar. Die Innenministerin heißt jetzt Nancy Faeser und sieht in dem Schritt hin zur Asylreform ein „historisches Momentum“ – kein Wort über die Frage der Inhaftierung, an der man vor wenigen Jahren beinahe eine Regierungskoalition hätte platzen lassen.Migrationskritiker werden zu MenschenrechtskritikernAuch die Fachdebatte nimmt zuweilen wunderliche Züge an. So schlägt etwa der konservative Migrationsrechtler Kay Heilbronner in der FAZ eine restriktivere Auslegung jener Menschenrechte vor, die der Abschottungspolitik in die Quere kommen. Aus dem Verbot der erniedrigenden Behandlung in Artikel 3 folgert man seit jeher, dass auch niemand in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem ihm eine solche Behandlung droht – das sogenannte Non-Refoulement-Gebot oder der Grundsatz der Nichtzurückweisung. Neben der Menschenrechtskonvention ist dieses Prinzip gleich in zwei weiteren Grundpfeilern des Völkerrechts verankert, der UN-Antifolterkonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention.Für Jurist Heilbronner Firlefanz: Dass man aus Artikel 3 eine allgemeine Schutzpflicht ableite, sei problematisch, Asylverfahren würden so aus den Fugen geraten, die Standards und Regeln müssten „deutlich reduziert“ werden. Andernfalls blieben „alle derzeit diskutierten Begrenzungsmaßnahmen politische Kosmetik“. Zum Mitschreiben: wenn geplante „Begrenzungsmaßnahmen“ und Menschenrechte kollidieren, sind nach dieser Auffassung nicht die Maßnahmen zu korrigieren, sondern die Menschenrechte.Heilbronner ist keine Ausnahme. Die FAZ zitiert britische Migrationsexperten, die gar einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ins Spiel bringen, damit Innenministerin Suella Braverman bei ihrem Hardliner-Kurs nicht länger vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte behelligt wird. Straßburg hatte im vergangenen Sommer den ersten Abschiebeflug nach Ruanda gestoppt, wo Großbritannien exterritoriale Asylverfahren durchführen will. Die wiederum beschlossen kurzerhand ein Gesetz, nach dem Entscheidungen des Gerichtshofs sie nicht mehr binden.Während also auf der europäischen Legislativebene noch juristischer Eiertanz um die Menschenrechte von Geflüchteten betrieben wird, bereiten Rechte schon den diskursiven Boden für ihre Abschaffung. Von der Bundesregierung ist kein nennenswerter Widerstand zu erwarten. Europa macht endgültig dicht.