Erdbeben in der Türkei: Fahrlässig bauen, fahrlässig töten

Meinung Warum die Bauindustrie in der Türkei immer wieder von Experten gewarnt wird und trotzdem so weitermacht wie bisher. Bis zum nächsten Erdbeben
Ausgabe 06/2023
Unzählige Häuser hielten dem Erdbeben im Südosten der Türkei nicht stand
Unzählige Häuser hielten dem Erdbeben im Südosten der Türkei nicht stand

Foto: Burak Kara/Getty Images

Die Katastrophe kam, wie man im Türkischen sagt, mit Gebrüll. Über 20 Jahre sind seit dem verheerenden Gölcük-Erdbeben vergangen, dem im Jahr 1999 18.000 Menschen zum Opfer fielen. 20 Jahre, in denen viel gesagt, aber wenig gemacht wurde. Baupfusch, mangelhafte staatliche Aufsicht, fehlende Investitionen in Warnsysteme und Rettungseinheiten – nichts davon ist neu. Bauliche Mindestanforderungen an die Erdbebensicherheit wurden zwar in den vergangenen Jahren verbessert. Allerdings stehen noch immer viele Gebäude aus der Zeit vor den neuen Regelungen.

Auf einigen Fotos der eingestürzten Häuser könne man noch die alte Bauweise erkennen, sagte Erdbeben-Ingenieur Mohammad Kashani von der britischen University of Southampton der Deutschen Welle. Was war der Plan für diese Häuser und ihre Bewohner? Warten, bis sich das Problem von selbst erledigt, möchte man zynisch antworten.

Selbst einige jener Neubauten, die den Anforderungen angeblich entsprechen sollen, begruben während des Bebens Menschen unter sich. So kursiert in den sozialen Medien ein Video, in dem zu sehen ist, wie ein nagelneues Hochhaus in sich zusammenkracht, als wäre es aus Sand. Auf der Webseite der Baufirma İs-hak İnşaat konnte der Häuserblock in der südöstlichen Stadt Malatya identifiziert werden. Als „erdbebensicher“ wird er in den Screenshots beworben, die Nutzer zusammen mit dem Video teilen. Inzwischen ist die Seite nicht mehr erreichbar.

Längst ist um die Warnrufe der Experten eine bizarre Folklore entstanden. Einer von ihnen war „Deprem Dede“, Erdbeben-Opa, wie man den 2013 verstorbenen Geophysiker Ahmet Mete Işıkara im Volksmund nannte. Unermüdlich machte Işıkara auf die unzureichenden Sicherheitsmaßnahmen aufmerksam.

In einer Nachrichtensendung am Morgen nach dem Beben von Montagmorgen platzte nun einem weiteren Experten, dem Geologieprofessor Naci Görür, der Kragen. „Das sind wissenschaftliche Warnungen!“, rief er nach langen Ausführungen darüber, wie Vorhersagen über Erdbeben in den verschiedenen Regionen der Türkei immer wieder unterschätzt werden. „Das ist nicht meine Privatmeinung. Das ist Wissenschaft! Wir betreiben hier keine Kaffeesatzleserei.“

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Geschrieben von

Özge Inan | Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

Özge İnan

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