Migration Die EU schottet ihre Außengrenzen immer stärker ab. Während Menschenrechtsorganisationen Alarm schlagen, dürfte sich vor allem einer darüber freuen: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan
Die EU schottet ihre Außengrenzen seit Jahren immer stärker ab
Foto: Attila Kisbenedek/AFP via Getty Images
Die Europäische Union hat sich die Quadratur des Kreises vorgenommen. Die Abschottungspolitik an den Außengrenzen soll in Gesetzesform gegossen werden, ohne dass die Menschenrechte in die Quere kommen. Während internationale Menschenrechtsorganisationen Alarm schlagen, dürfte an einem anderen Ort die Freude überwiegen: im Präsidentschaftspalast von Ankara.
Die wohl folgenreichste Neuregelung aus dem 2020 vorgestellten Asylpaket ist die sogenannte Screening-Verordnung, die gerade vom Ministerrat angenommen wurde. Sie sieht ein neuartiges Verfahren für Drittstaatsangehörige vor, die irregulär eine EU-Außengrenze passiert haben. Erst nach einem Screening, also Identifizierung, medizinische Untersuchung, Registrierung in einer speziellen Datenba
en Datenbank und verschiedenen Sicherheitsüberprüfungen, soll die eigentliche Asylprüfung stattfinden – und zwar in Highspeed: Wer muss umkehren, wer darf weiter? Nach spätestens fünf, in Ausnahmefällen zehn Tagen, soll alles geklärt sein. Hat der Asylantrag keine Aussicht auf Erfolg, ergeht gleichzeitig mit dem negativen Bescheid die Rückkehranordnung. Andernfalls darf der Betroffene in das EU-Hoheitsgebiet einreisen.Wer aufmerksam gelesen hat, wird vermutlich über den letzten Satz gestolpert sein. Ist der Betroffene während der Prüfung nicht bereits auf EU-Hoheitsgebiet? Hat er nicht die Grenze passiert und ist so überhaupt in den Anwendungsbereich der Screening-Verordnung gelangt? Hier kommt ins Spiel, was Fachleute die Fiktion der Nichteinreise nennen. Und worüber sie seit Jahren trefflich streiten.Hinter der Grenze und doch nicht eingereistDie Fiktion der Nichteinreise bedeutet, dass ein Mensch juristisch als in einem Staat abwesend gilt, obwohl er sich physisch auf seinem Territorium aufhält und der Hoheitsgewalt seiner Behörden unterliegt. Im deutschen Aufenthaltsgesetz werden Menschen, die an Flughäfen ankommen und die Einreisevoraussetzungen nicht erfüllen, mithilfe dieses Konstrukts zurückgewiesen, ohne dass ein formelles Abschiebungsverfahren eingeleitet werden muss.Im Sommer 2018, zu Merkelzeiten, diskutierte das Land schon einmal über eine mögliche Ausweitung. Als die Union damals das ganze deutsch-österreichische Grenzgebiet zu einer Transitzone mit Nichteinreise-Fiktion machen wollte, hagelte es von Presse und Fachleuten heftige Kritik. Tenor: Heimatminister Seehofer will an Deutschlands Grenzen Lager bauen. Nach deutschem Recht ist die Nichteinreise-Fiktion nämlich in dem Moment passé, in dem den Behörden die „Kontrolle des Aufenthalts des Ausländers“ abhandenkommt. Die Erklärung, wie das Transitverfahren an der Grenze ohne massenhafte Internierung durchführbar sein soll, blieben CDU und CSU bis zuletzt schuldig.Die taz nannte das Vorhaben den „Versuch, eine (…) brutal inhumane Agenda über die Schaffung rechtsfreier Räume zu legalisieren“. Spiegel-Tochter bento bezichtigte die Union, der AfD nachzueifern und schrieb von einem „Land, das sein eigenes Grundgesetz verrät“. Auf der Fachplattform Verfassungsblog urteilte die Völkerrechtlerin Dana Schmalz, ein solches „Instrument der Entrechtung“ – gemeint ist die Nichteinreise-Fiktion – erfordere „Widerstand im hier und jetzt“. Hochrangige SPD-Namen wie Klingbeil, Özoğuz und Nahles erteilten der Idee eine ungewohnt scharfe Absage. Selbst der Direktor des Instituts für deutsche Sprache schaltete sich ein, bezeichnete die Begriffe Transitzone und Einreisezentrum als „verharmlosend“.Zwei Jahre später sah die Welt schon ganz anders aus. Obwohl die Europäische Kommission sich desselben Rechtsinstruments bedienen wollte wie 2018 die Union, und zwar auf einem Gebiet von der knapp siebzehnfachen Größe, war die Resonanz vergleichsweise minimal und ist es bis heute. Zwar wirft das aktuelle europäische Vorhaben die gleichen Fragen auf, allen voran: wie soll das Ganze ohne kategorische Inhaftierung der Ankommenden funktionieren? Nur stellt diese Fragen, bis auf einige Stimmen aus der Fachöffentlichkeit, kaum jemand.Die Folge: Mangelhalfter Rechtsschutz„Wenn es bei den aktuellen Vorschlägen bleibt, dann führt dies aller Voraussicht nach zur standardmäßigen Anwendung von Haft“, lautet das akribisch belegte Fazit eines gemeinsamen Kommentars der juristischen Referentinnen des Deutschen Roten Kreuzes, der Evangelischen Kirche und Pro Asyl. Mangelhafter Rechtsschutz sei die Folge. Zwar steht es Betroffenen während des Verfahrens frei, Rechtsbehelfe einzulegen – alles andere wäre ein Verstoß gegen das Menschenrecht auf ein faires Verfahren. Allerdings nützt diese theoretische Möglichkeit ohne Zugang zu anwaltlicher Beratung wenig. Zu diesem Schluss kommt auch das Netzwerk Fluchtforschung, ein interdisziplinärer wissenschaftlicher Zusammenschluss. Es werde deutlich, „dass der Vorschlag in seiner jetzigen Form kaum zu einem fairen Grenzverfahren führen dürfte“. Für schnelle Ergebnisse würden Prozessgrundrechte geopfert: „Geltende Verfahrensstandards müssten (…) besser gesichert werden, insbesondere das Recht auf eine persönliche Anhörung und der Zugang zur Rechtsberatung, die erfahrungsgemäß unzureichend gewährt werden.“Ob die Verordnung so kommt, wie geplant, wird sich zeigen, wenn sie demnächst im Europaparlament besprochen wird. Den Ministerrat hat sie jedenfalls erfolgreich passiert. Die zweite Neuregelung, die erst Ende 2021 vorgestellt wurde, hat diesen Schritt noch vor sich. Sie trägt den Namen „Verordnung zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Asyl“ und soll immer dann greifen, wenn Fluchtbewegungen „für politische Zwecke instrumentalisiert“ werden – wie im Februar 2020 an der türkisch-griechischen Grenze. Die griechische Polizei wehrte die Menschen, die sich auf die von Präsident Recep Tayyip Erdoğan angekündigte Grenzöffnung hin Richtung Westen begeben hatten, mit Tränengas, Schlagstöcken und Gummigeschossen ab. Wochenlang zog sich die Gewalt hin, schockierende Bilder gingen um die Welt. Schließlich endete das Ganze für Erdoğan mit einem beträchtlichen Erfolg. Zusätzlich zum sechs Milliarden Euro schweren sogenannten Flüchtlingsdeal konnte er knapp 500 Millionen Euro aus der EU rausholen. Alexander Lukaschenko schaute sich die Taktik ab und versuchte auf die gleiche Weise im November 2021, EU-Sanktionen gegen Belarus zu kippen.An diesem Punkt war für die Kommission Schluss mit lustig. Die neue Instrumentalisierungsverordnung sieht in solchen Fällen künftig eine ganze Reihe an Sonderregeln vor, darunter ein „Notverfahren für das Rückkehrmanagement“. In diesem Notverfahren dürfen Mitgliedsstaaten nach eigenem Ermessen Personen von der Anwendung der europäischen Rückführungsrichtlinie ausschließen. Die Rückführungsrichtlinie wiederum garantiert Mindeststandards zugunsten der Abgeschobenen, insbesondere im Rechtsschutzbereich.„Versuchsballon zur Legalisierung von Pushbacks“Eine weitere Neuerung soll für Binnentransfers zwischen Mitgliedstaaten gelten. Umgehend und ohne jede Rechtsschutzmöglichkeit sollen Geflüchtete, die in Grenznähe aufgegriffen und von den Behörden als nicht bleibeberechtigt eingeschätzt werden, zurückgeschoben werden können. „Pushbacks? Egal, wir machen das jetzt so“, kommentiert Anna Lübbe, Professorin für Öffentliches Recht und Leiterin der Law Clinic Migrationsrecht an der Hochschule Fulda, in einem Verfassungsblog-Beitrag. Tatsächlich wären sogenannte Pushbacks, also die bisher illegale unmittelbare Zurückschiebung Schutzsuchender, durch die Neuregelung auf einen Schlag legitimes Mittel der Migrationskontrolle. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte zwar 2011 geurteilt, dass auch europäische Staaten untereinander nicht einfach Menschen hin und her schicken dürfen, ohne die Verhältnisse im Zielstaat genau zu prüfen und effektiven Rechtsschutz zu gewähren. „Argumente zur Vereinbarkeit des Vorschlags mit der (…) Rechtsprechung finden sich in den Erläuterungen der Kommission nicht“ schreibt Lübbe. „Verständlich: Lässt man einen Versuchsballon zur Legalisierung von Pushbacks steigen, schweigt man dazu besser.“Wie könnte all das nun dem türkischen AKP-Regime in die Karten spielen? Das nächste Mal wird in der Türkei im Juni 2023 gewählt. Die Umfragewerte der AKP sind historischen niedrig, ein harter Winter steht bevor. Staatschef Erdoğan ist berüchtigt dafür, vor heiklen Wahlen und Abstimmungen außenpolitische Gefahren zu provozieren. Nach innen sendet er so das unmissverständliche Signal: keine Zeit für Wechsel und Neuausrichtung, der Bestand der Nation steht auf dem Spiel, jetzt hat Sicherheit Vorrang. So kam es im Vorfeld der Verfassungsreform 2017 zu militärischen Provokationen gegen Griechenland. 2018, während des Wahlkampfs für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, marschierte die türkische Armee unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung in Nordsyrien ein, hält bis heute große kurdische Gebiete besetzt und siedelt gezielt Araber*innen an.Das bestimmende Thema des türkischen Wahlkampfs 2023 wird neben der katastrophalen Wirtschaft der Umgang mit den über vier Millionen Geflüchteten im Land sein. Der Hass auf die Schutzsuchenden wächst täglich, immer wieder kommt es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Die Opposition, angeführt von der kemalistischen CHP unter Kemal Kılıçdaroğlu und der ultranationalistisch-konservativen İYİ Parti unter Meral Akşener, macht die rassistischen Spannungen im Land schon jetzt zu Wahlkampfmaterial. Unter ihrer Führung würden alle Geflüchteten sofort abgeschoben, lautet das Versprechen. Eine eindrückliche Demonstration, die Menschen Richtung Europa loswerden zu wollen, käme der Regierung gerade äußerst gelegen. Wenn strenge EU-Regelungen diese Versuche scheitern ließen, eine Mehrheit nach kurzer Zeit in die Türkei zurückgeschoben würde, gäbe es in der türkischen Bevölkerung eine tiefe Verunsicherung – der Februar 2020 gab darauf einen Vorgeschmack. Diese Verunsicherung könnte Erdoğans Ticket zum Wahlsieg werden. Und davor, die Geflüchteten hinterher in ihre Herkunftsländer, überwiegend Syrien und Afghanistan, abzuschieben, schreckt die Türkei ohnehin nicht zurück – Völkerrecht hin oder her, europäische Unterstützung bekommt sie sowieso. Der Westen präsentiert Erdoğan Problem und Lösung auf dem Silbertablett. Er muss nur noch zugreifen.
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