Italien: Seenotretter ziehen gegen Melonis Behörden vor Gericht

Interview In der Mittelmeerfrage scheint Italien die Taktik gewechselt zu haben. Jetzt erheben Rettungsorganisationen Klage in Rom. Nassim Madjidian, Doktorandin im Seevölkerrecht, über einen Rechtsstreit mit einer der rechtesten Regierungen Europas
Geflüchtete auf einem Rettungsschiff am Golf von Catania auf Sizilien: „Es kann sehr gefährlich werden, den Menschen tausend weitere Kilometer zuzumuten“
Geflüchtete auf einem Rettungsschiff am Golf von Catania auf Sizilien: „Es kann sehr gefährlich werden, den Menschen tausend weitere Kilometer zuzumuten“

Foto: Vincenzo Circosta / Kontributor

In den frühen Morgenstunden des 20. April funkt der Kapitän der Humanity 1 die italienischen Hafenbehörden an. Er hat 69 Überlebende an Bord, die seine Crew aus dem zentralen Mittelmeer gerettet hat. Die Italiener schicken ihn zum Hafen Ravenna – 1600 Kilometer entfernt. Weil das immer wieder vorkommt, reichen die Rettungsorganisationen Mission Lifeline, Sea-Eye und SOS Humanity am nächsten Tag Klage gegen das Verkehrsministerium, das Innenministerium, das Verteidigungsministerium und das Regierungspräsidium ein.

der Freitag: Was ist das konkrete Problem der Seenotretter?

Nassim Madjidian: Ihre Schiffe konnten vorher relativ problemlos in Sizilien anlanden und gerettete Menschen dort an Land bringen. Seit Neuestem werden sie sehr weit in den Norden geschickt und müssen tagelange Überfahrten zurücklegen. Die Menschen an Bord müssen diese Reise mitmachen, zusätzlich kostet das eine Menge Geld für die NGOs, weil Treibstoff verschwendet wird. Nicht zuletzt werden die Schiffe damit natürlich aus dem Einsatzgebiet abgezogen. In Italien gibt es ein gutes Netzwerk aus sehr solidarischen Rechtsanwältinnen im Bereich Migrationsrecht. Aus diesem Kontext wurde jetzt vor einem Zivilgericht in Rom Klage eingereicht. Das Zivilgericht soll feststellen, dass das rechtswidrig ist und Rechte verletzt. Damit soll die zukünftige Anwendung dieser Praxis unterbunden werden.

Wie wird rechtlich dagegen argumentiert, dass die Behörden einen entfernten Hafen zuweisen? Die wissen doch am besten, wo es Platz zum Anlegen gibt und wo nicht.

Das Völkerrecht regelt, wie Küstenstaaten sich in Fällen von Seenotrettung verhalten müssen. Eine der Grundregeln im Seenotrettungsrecht ist, dass dem Kapitän eines Schiffes, auf dem sich Gerettete befinden, so schnell wie möglich ein so genannter Place of Safety, ein sicherer Ort zugewiesen werden muss.

Das macht Italien doch.

Ja, aber es gibt noch eine weitere Regel. Nach dem Seevölkerrecht muss es der „most appropriate place of safety“ sein, also der angemessenste sichere Ort. Das ist natürlich Ermessenssache. Man kann aber sehr gut argumentieren, angemessen ist jedenfalls nicht, was viel zu weit im Norden liegt, wenn es auch andere Möglichkeiten gibt. Italien selber argumentiert, sie müssten Sizilien entlasten, die Aufnahmekapazitäten seien erschöpft. Ich kann das sogar in Teilen nachvollziehen, Sizilien ist ja tatsächlich zum Hotspot geworden. Aber dann können die Menschen ja mit Bussen an einen besser geeigneten Ort verbracht werden. Außerdem gab es Zeiten mit viel höheren Anlegezahlen als jetzt, in denen die Kapazitäten auch gereicht haben.

Der zweite Aspekt ist die enorme Belastung sowohl für die Menschen an Bord als auch für die Crew. Es kann sehr gefährlich werden, den Menschen tausend weitere Kilometer zuzumuten, da können Gesundheit und Leben auf dem Spiel stehen. Und dann sind die Schiffe ja auch noch fünf bis sechs Tage aus dem Einsatzgebiet raus, in dieser Zeit können keine Rettungen stattfinden. Das ist in meinen Augen auch das eigentliche Ziel dieser Praxis.

Hängt das mit der ultrarechten Giorgia Meloni zusammen, die im Oktober vergangenen Jahres zur Regierungschefin gewählt wurde?

Es fing alles etwa im November an, direkt mit dem Regierungswechsel gab es Fälle, dass Schiffe in weit entfernte Häfen verwiesen wurden. Eins musste sogar nach Frankreich. Im neuen Jahr kam dann ein Dekret der italienischen Regierung, in dem neue Einschränkungen für die zivile Seenotrettung aufgestellt werden. Das ist die Rechtsgrundlage. Nach diesem Dekret, das mittlerweile auch durch das Parlament bestätigt wurde und damit jetzt Gesetz ist, sind NGOs verpflichtet, eine Rettung sofort zu melden und den ihnen zugewiesenen Hafen anzusteuern. So wird verhindert, dass sie weiter im Suchgebiet bleiben und weitere, noch offene Einsätze durchführen. Außerdem müssen sie den italienischen Behörden bestimmte Informationen über die geretteten Menschen geben. Ich halte das für völkerrechtswidrig, weil Schiffe auf hoher See unter der Jurisdiktion ihres Flaggenstaates stehen. Italien greift damit in den Hoheitsbereich anderer Länder ein. Mittelbar wird über die Klage also auch dieses Gesetz angegriffen.

Zivile Seenotrettung verhindern zu wollen, um keine „Fluchtanreize“ zu schaffen, wäre in Italien aktuell wohl gar nicht so unpopulär. Meloni ist ja gerade erst gewählt worden. Wieso wird dieses Ziel trotzdem nicht offen benannt?

Meine Theorie ist, dass die Politik der geschlossenen Häfen – vor allem unter Salvini – und der Fall Carola Rackete so eine enorme Medienaufmerksamkeit brachten und Italien in so ein schlechtes Licht gestellt haben, dass man so etwas um jeden Preis verhindern will.

Die Politik der geschlossenen Häfen ...

Das war die Praxis unter dem damaligen Innenminister Salvini, NGO-Schiffen einfach gar keinen Hafen zuzuweisen. Das führte zu wochenlangen Stand-Offs von Schiffen mit Geretteten an Bord vor der italienischen Küste. Im Hintergrund liefen dann Verhandlungen zwischen europäischen Mitgliedsstaaten, die bereit waren, die geretteten Menschen aufzunehmen. Und erst, wenn feststand, die Geflüchteten werden weiterverteilt, gab es irgendwann die Erlaubnis, in den Hafen einzufahren. Das hat zu sehr viel Kritik auch auf europäischer Ebene gesorgt, die EU-Kommission hat sich eingeschaltet.

Das neue Modell ist da effektiver: man lässt sie in einen Hafen einfahren, aber verzögert das Ganze, sodass wesentlich weniger Rettungen stattfinden. Und das genießt dann auch keine Medienaufmerksamkeit, denn die Seenotrettungsorganisationen sind ja unterwegs und bekommen Häfen zugewiesen, wo ist das Problem? Ähnlich war es mit der Praxis, die Schiffe für wochenlange Kontrollen im Hafen festzusetzen. Da hat der Europäische Gerichtshof zuletzt die Position der Organisationen ein Stück weit gestärkt. Am Ende geht es immer um das Gleiche: wenn man gar keinen Hafen zuweist, gibt es Aufmerksamkeit und Berichterstattung. Wenn man einen viel zu weit entfernten Hafen zuweist oder Schiffe darin festhält, interessiert sich keiner dafür und man hat trotzdem erreicht, was man wollte, nämlich, die Kapazitäten der Organisationen drastisch zu reduzieren.

Foto: privat

Nassim Madjidian, 36, ist Juristin und promoviert am Lehrstuhl für Seevölkerrecht der Universität Hamburg zu rechtlichen Rahmenbedingungen der zivilen Seenotrettung. Gemeinsam mit Sara Wissmann ist sie Co-Autorin des Buches Seenotrettung? Klare Antworten aus erster Hand, das im Juli 2023 bei utb erscheint.

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