Kopftuch vor Bundesverfassungsgericht: Es kommt darauf an

Religionsfreiheit Sollen muslimische Lehrerinnen ein Kopftuch tragen dürfen? Die Republik debattiert seit zwanzig Jahren. Ein neuer Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bestätigt eine alte Rechtsprechung – und stößt doch Veränderung an
Berlin darf Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuchs nicht pauschal verbieten
Berlin darf Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuchs nicht pauschal verbieten

Foto: Michael Schick/Imago Images

Ob das Kopftuch einer Lehrerin den Schulfrieden und die staatliche Neutralität gefährdet, muss, wie bereits 2015 entschieden, am Einzelfall beurteilt und darf nicht pauschal angenommen werden. So schnöde der juristische Gehalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Mittwoch sein mag, so viel politischen Sprengstoff enthält sie. Wieder einmal. Denn das Kopftuch bei Beamtinnen muslimischen Glaubens beschäftigt die Deutschen und ihre Justiz seit mehr als zwei Jahrzehnten.

1998 war es, als der angehenden Lehrerin Fereshta Ludin in Baden-Württemberg der Eintritt in den Staatsdienst verweigert wurde. Es fehle wegen ihres Kopftuchs an der persönlichen Eignung zum Beamtentum. Eine „objektiv werbende Wirkung“ gehe davon aus, so Stefan Reip, Vertreter des baden-württembergischen Schulamts, „ob sie das will oder nicht“. Ludin akzeptierte das nicht, klagte sich hoch bis nach Karlsruhe – und scheiterte. Zwar sah das Bundesverfassungsgericht in seiner als „Kopftuchurteil“ in die Rechtsgeschichte eingegangenen Entscheidung von 2003 Ludins Grundrechte verletzt, aber nur aufgrund unzureichender Landesgesetze. Die damalige CDU-FDP-Landesregierung in Baden-Württemberg justierte im wahrsten Sinne des Wortes nach, Ludin zog erneut vor Gericht und verlor.

Davon ermutigt, schrieben einige Bundesländer pauschale Kopftuchverbote in ihre Neutralitätsgesetze, darunter auch Nordrhein-Westfalen. 2015 zogen zwei Lehrerinnen aus dem Land vor das Bundesverfassungsgericht. Dort hatte man aus der erregten Debatte, die das erste Urteil ausgelöst hatte, offenbar ernsthaft gelernt. „Kopftuchurteil II“ heißt das in den Lehrbüchern zur Grundrechtslehre: keine pauschalen Verbote, stattdessen Einzelfallprüfung, so viel Religionsfreiheit muss sein. Die Rechtswissenschaft geriet nun endgültig in Streit.

2020 scheiterte eine hessische Rechtsreferendarin mit dem Versuch, die Linie des Bundesverfassungsgerichts auf die Justiz zu übertragen. Anders als in der Schule, so die Karlsruher Richter, trete der Staat dem Bürger bei Gericht „klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung“ gegenüber. „Wir sind der Staat“, ätzte der ehemalige Bundesrichter und heutige Berufspolemiker Thomas Fischer in seiner Spiegel-Kolumne, „und der Staat ist neutral, und zur Ehre Gottes werden bei uns keine Kopftücher getragen, sondern nur Kippas und Sterne und Kreuze und Ketten und Rosenkränze und Heiligenbilder ...“ Die Aufzählung erstreckt sich über mehrere Zeilen.

CDU in Berlin will Neutralitätsgesetz beibehalten

Jetzt also, 2023, die Bestätigung der Rechtsprechung zu Lehrerinnen durch das Bundesverfassungsgericht. Und damit ein Auftrag an den nächsten Senat in Berlin, der sich nach der Abgeordnetenhaus-Wahl am 12. Februar bilden wird. Aber ein Auftrag wozu? „Eine Frau mit Kopftuch wird in gleicher Weise einen wunderbaren Staatsdienst vollbringen können, wie eine Person ohne Kopftuch“, sagte Justizsenatorin Lena Kreck (Die Linke) dem rbb. Wenn es nach ihr ginge, wäre das Neutralitätsgesetz längst abgeschafft.

Die, nach der es geht, sitzt allerdings im Roten Rathaus und gehörte in ihrer Zeit als Bezirksbürgermeisterin Berlin-Neuköllns zu den ersten Unterzeichnerinnen eines Aufrufs zur Einführung ebenjenes Gesetzes. 2005 sah die Welt eben noch anders aus.

Man müsse jetzt über seine „Veränderung“ sprechen, sagte Franziska Giffey nun dem rbb, und zwar „zeitnah“. Vergleichbar interpretieren Berlins Christdemokraten das Urteil und lassen nicht ihre rechts-, sondern ihre kirchenpolitische Sprecherin verkünden, man sehe einen „klaren Auftrag, dieses Gesetz so fortzuentwickeln, dass es rechtssicher wird“. Zuletzt hat die CDU in Umfragen zwei Prozentpunkte zugelegt, auf bemerkenswerte 27 Prozent. Dass Giffey lieber heute als morgen aus der Koalition mit den Linken raus will, gilt als offenes Geheimnis, und das ist ohne die CDU kaum zu machen. Das letzte Wort zum Kopftuch bei Lehrerinnen ist also noch nicht gesprochen. Es wäre auch zu schön gewesen.

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Geschrieben von

Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

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