Es hört nicht auf. Das ist das Gefühl, das Menschen, die ihre Wurzeln in der Türkei, in Syrien oder den kurdischen Gebieten haben, seit über einer Woche begleitet. Anfangs stiegen die Todeszahlen in Hunderterschritten, dann schnell in Tausendern. Und weil das noch eine ganze Weile so weitergehen wird, gibt es kein Verschnaufen, kein Überblicken und Innehalten ob des Schreckens. Die Zeit ist nicht stehengeblieben, sie wird nur anders gezählt. Nicht mehr Donnerstag, Freitag, Samstag heißen die Tage, sondern Tag vier, Tag fünf, Tag sechs.
Bekanntermaßen leben viele Menschen in Deutschland, die Familie, Freunde, Landsleute im Erdbebengebiet haben. Bekannt ist inzwischen auch, dass es sich um die bisher größte humanitäre Katastrophe des
trophe des 21. Jahrhunderts handelt. Deutschland schickt Rettungsteams, hält im Bundestag eine Gedenkminute ab, richtet über die „Aktion Deutschland Hilft“ ein Spendenkonto ein. Immerhin institutionell hat man sich wenig vorzuwerfen. Aber eine Sache, das berichten inzwischen immer mehr Menschen mit Migrationsgeschichte aus den betroffenen Gebieten, blieb nahezu vollständig aus: persönliche Anteilnahme.„Warum sind die Deutschen kalt wie Eis?“, fragt etwa eine türkischstämmige Frankfurterin auf Twitter. Nachbarn, Kollegen, alle täten, als sei nichts. „Das ist so schockierend.“ Viele stimmen ihr zu. „Bei mir fragen nicht mal die sogenannten engen Freunde nach“, lautet eine anonyme Antwort, „meine Enttäuschung kann ich nicht in Worte fassen.“ Eine Nutzerin schreibt, sie habe Familienangehörige verloren, ihre Freunde wüssten davon und hätten sich trotzdem nicht gemeldet. „Die Ignoranz“, schreibt eine weitere Nutzerin, „die ich diese Woche erlebt habe, war erschreckend.“ Sie könne an einer Hand abzählen, wie viele Freunde gefragt hätten, wie es ihr gehe.„Business as usual“also in Deutschland, gerade in Schule und Beruf, wo eine gleichbleibend produktive Leistung erwartet wird. Hat man enge Familienangehörige verloren, kann man sich immerhin auf arbeitsrechtliche Sonderregeln berufen, aber Kranksein wegen Weltschmerz gibt es nicht. Fristen laufen weiter, Abgaben warten nicht. Hier ist eben nicht Tag sieben, sondern Montag.Die Deutschen und GefühleMit den Deutschen und den Gefühlen ist es kompliziert. Selbstverständlich ist von Laien keine einwandfreie Krisenbegleitung zu erwarten, schon gar nicht angesichts der albtraumhaften Umstände. Schiefe Formulierungen oder unglückliche Fragen wird und darf es geben. Aber gerade wenn das Leid besonders groß, die Emotionen besonders schwer sind, hüllt man sich in diesen Breitengraden gerne in Schweigen. Da heißt das Gebot der Stunde nicht Anteilnahme, sondern Zurückhaltung. Man könnte ja jemandem zu nahe treten. Diese Bedenken hört man oft von Menschen, die sich angesichts des ausbleibenden mitmenschlichen Interesses ertappt fühlen.Es prallen Welten aufeinander. Denn auf der anderen, betroffenen Seite herrscht eine Kommunikations- und damit auch Trauerkultur, die nahezu keine Intimsphäre kennt. Eine Kultur, in der die standardmäßige Ansprache an eine fremde ältere Frau „Tante“ lautet, einen alten Mann „Onkel“ und eine gleichaltrige Person „kardeş“, das geschlechtsneutrale Wort für Geschwister. In der man eine größere Gruppe, ob man sie mag oder nicht, auch in professionellen Kontexten ganz selbstverständlich „Freunde“ ruft. Politisch mag man sich in der Türkei bis aufs Blut bekämpfen, sprachlich blieb die Gesellschaft durch all die turbulenten Jahre hindurch eine gigantische Familie. Und jetzt ist eben von „unseren“ zerstörten Städten die Rede, „unseren“ Geretteten, „unseren“ Toten. Wie fast alles ist auch Trauer kollektiv, ein unteilbares Gut wie die Luft, die man atmet. Aus diesem Grund hängt sie auch seit Tag eins über allen, die sich in dieser Region der Erde verwurzelt fühlen.Als die Tage noch Namen hatten und keine Nummern, stellte man solche Vergleiche zum Zeitvertreib an. Amüsierte sich mal über deutsche Distanziertheit, ärgerte sich mal über fehlenden Sinn für Privatsphäre in der Heimat, trat mal bei den einen, mal bei den anderen ins Fettnäpfchen. Das ganz normale Migrantendasein eben. Aber jetzt ist nichts mehr normal. Jetzt werden die kulturellen Unterschiede zu spitzen Kanten, die einem ins Fleisch schneiden. Denn alles Wissen über die Deutschen und ihre Schweigsamkeit kann nichts ausrichten gegen das Gefühl, mit dem Schrecken des Erdbebens alleine zu sein.Wir fühlen uns alleinDas spielt sich auf einer anderen, womöglich primitiveren Ebene ab. Der Mensch, und zwar der deutsche wie der türkische, kurdische und arabische, ist ein Herdentier. Kein freiheitlicher Individualismus wird daran je etwas ändern. Einsamkeit, weiß die Forschung, fühlt sich deshalb wie eine existenzielle Bedrohung an. Es ist diese Ebene, auf der es Sturm läutet, wenn inmitten nicht abreißender Schreckensmeldungen die entsprechenden persönlichen Begegnungen ausbleiben. Denn dann folgert das Gehirn, angesichts einer Gefahr von der Gruppe abgeschnitten zu sein. Das löst existenzielle Panik aus. So einfach und so schwer ist das.