Rammstein-Vorwürfe: Lindemann und die Drübersteher

Kolumne Während der Debatte um Gewalt auf Rammstein-Konzerten entdecken manche Männer ihren inneren Lindemann. Andere sorgen sich um den Ruf ihres Geschlechts. Am ekelhaftesten findet unsere Autorin aber die dritte Art: Professionelle Drübersteher
Im Zentrum hitziger Debatten: Rammstein-Sänger Till Lindemann
Im Zentrum hitziger Debatten: Rammstein-Sänger Till Lindemann

Foto: Gonzales Photo/Imago Images

Wer als Frau sozialisiert ist, hätte die vergangene Woche wahrscheinlich am liebsten unter einem Stein verbracht. Mir jedenfalls ging es so. Die Vorwürfe gegen Rammstein-Frontsänger Till Lindemann, auf Konzerten gezielt junge Frauen für Sex unter Drogen gesetzt haben zu lassen, dominierten alles. Allgegenwärtige Beschreibungen von Gewalt, bei denen sich einem der Magen umdreht, waren dabei noch das geringste Problem. Da nimmt das übliche Dilemma seinen Lauf.

Habe ich ein Recht darauf, nicht einmal die Berichte auszuhalten darüber, was andere am eigenen Leib ertragen mussten? Ich gehöre zu den wenigen Frauen ohne Gewalterfahrung, ich kann keinen Trigger vorweisen. Darf es mir trotzdem zu viel sein? Zumal als Journalistin, deren Aufgabe doch eigentlich genau darin besteht, Informationen zu sammeln, zu sichten, zu destillieren? Von all diesen Fragen unbehelligt ziehen die Männerhorden wie gewohnt durch die Medien, die Sozialen wie die übrigen. Drei Arten von Horde sind mir aufgefallen, ich stelle sie in der Reihenfolge aufsteigender Ekelhaftigkeit vor.

Die „Ich-würde-niemals“-Männer

Die erste Horde ist die zahlreichste. Es sind die Not-All-Men-Männer. Die Ich-würde-niemals-Männer. Die Bitte-kein-Generalverdacht-Männer. Viel ist gesagt worden über diese immer etwas weinerlich daherkommende Kritik. Man kann sie menschlich nachvollziehen, schließlich hat ein Vergewaltigungsvorwurf etwas zutiefst Ehrenrühriges, jedenfalls jenseits von Stammtischen und Deutschraptexten. Dass der gar nicht automatisch einem selbst gilt, nur weil man in diesem Zusammenhang das Wort „Männer“ vernommen und dann das Hirn ausgeschaltet hat, begreifen sie nicht.

Wer Schwierigkeiten hat, einen Sachverhalt auch mal nicht auf sich zu beziehen, fühlt sich schnell angegriffen. Soll bei (bitte das Hirn anlassen!) Männern ja vorkommen. Gleich mehrere stellten mir kurzerhand die Verdachtsdiagnose Paranoia aus, weil ich in einem Tweet die Überlegung äußerte, womöglich schon unwissentlich dem ein oder anderen Lindemann entkommen zu sein. So könne man ja wohl nicht durchs Leben gehen. Stimmt, kann man wirklich nicht. Muss man aber.

Während hier also noch kräftig illusioniert wird, tut die zweite Horde das, was man im Internetjargon saying the quiet part out loud nennt, spricht also den stillen Teil laut aus. Möchtegern-Lindemanns, die würden, wenn sie könnten. Sexuell gefügige, weil halb bewusstlose Frauen jeder erdenklichen Art und Güte in unbegrenzter Zahl und keine Aussicht auf Konsequenzen für noch den hemmungslosesten Gewaltakt: Bock? „Realistischerweise“, so der Kommentar eines Nutzers, könne sich wohl kein Mann „gänzlich von freisprechen“. Prost Mahlzeit. Wer nicht verstehe, so ein anderer Nutzer unter Klarnamen (!), was auf Aftershowpartys großer Bands passiere, müsse eben „lernen“. Was in komplett anonymen Foren unter diesem Thema vor sich geht, erspare ich der Leserin lieber. Ein Rest Psychohygiene muss sein, auch als Journalistin.

Bitte recht unaufgeregt

Apropos, in der dritten Horde sind Kollegen besonders häufig vertreten. Hier nähert man sich dem Thema wie der Politik-Erstsemester dem Nahostkonflikt und findet es in erster Linie wahnsinnig spannend. Wichtig ist, unaufgeregt zu analysieren, differenziert zu betrachten und was das Handbuch des professionellen Drüberstehers noch so hergibt. „Ein Konzert ist kein Kindergarten“, mahnt etwa die FAZ und kritisiert die „übermütterliche Sorge“ um „reife Frauen und Männer“. Gott habe den Menschen selig, der in diesen Satz „und Männer“ hineinredigiert hat. Wie auch immer: „die Masse, das Verruchte, Nähe und Ekstase“, auch das sei „Freiheit“, die „geschützt werden muss“. Kann ich die Not-all-Men-Männer bitte noch mal sehen?

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Geschrieben von

Özge İnan

Redakteurin, Social Media

Özge İnan hat in Berlin Jura studiert. Währenddessen begann sie, eine Kolumne für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline zu schreiben. Nach ihrem ersten juristischen Staatsexamen folgten Stationen beim ZDF Magazin Royale und im Investigativressort der Süddeutschen Zeitung. Ihre Themenschwerpunkte sind Rechtspolitik, Verteilungsfragen, Geschlechtergerechtigkeit und die Türkei.

Foto: Léonardo Kahn

Özge İnan

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