Porträt Die Präsidentschaftswahlen in der Türkei gehen in die zweite Runde. Der drittplatzierte Sinan Oğan hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Unterstützung ausgesprochen. Wer ist der Mann, von dem jetzt alles abhängt?
Sein erstes Leben war das eines Akademikers, erst 2011 ging Sinan Oğan in die Politik
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Eines muss man Sinan Oğan lassen: Er bleibt hart. Bei den türkischen Präsidentschaftswahlen Mitte Mai war er der Außenseiter neben Präsident Recep Tayyip Erdoğan und dessen populärem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu. Als der Kandidat des ultrarechten Ata-Bündnisses mit überraschenden fünf Prozent der Stimmen in die Position des Königsmachers rückte, richteten sich alle Augen auf ihn. Das Schicksal der Nation hing davon ab, wem er seine Unterstützung aussprechen würde. Zweieinhalb Millionen Menschen hatten ihn gewählt, etwa die Anzahl, die Erdoğan für einen Wahlsieg gefehlt hatte. Kılıçdaroğlu war dahinter mit knapp 45 Prozent der Stimmen zurückgeblieben.
Aus der
Aus der Ruhe brachte all das Sinan Oğan, 54, nicht. Mantraartig wiederholte er in Interviews die immer gleichen Bedingungen: sofortige Abschiebung aller im Land befindlichen Geflüchteten und eine klare Distanzierung von Kräften, die er als terroristisch einstuft, allen voran die prokurdische HDP. Die Feindschaft gegen die Geflüchteten, in erster Linie Syrer und Afghanen, die im Rahmen des EU-Türkei-Deals auf dem Weg nach Europa abgefangen und im Land festgehalten werden, kommt nicht von ungefähr. Auch die Forderung, die politische Vertretung der Kurden von der Politik fernzuhalten, ist kein Zufall. Das alles sind keine Machtspielchen für den relativ unerfahrenen Politiker, keine Wahlkampftaktik. Sinan Oğan hat eine Haltung. Und die liegt so weit rechtsaußen, dass dem deutschen Polit-Jargon zuweilen die Begrifflichkeiten fehlen, um sie zu beschreiben.Vier Schwerter im ostanatolischen HimmelGeboren wird Oğan 1969 in Melekli, einem Dorf mit einigen tausend Einwohnern in der Provinz Iğdır, gleich an der Grenze zu Aserbaidschan. Die Geschichte von Oğans Heimat ist geradezu musterhaft für den türkischen Nationalmythos, dem ihr berühmtester Sohn sein Leben widmen wird. Melekli, zu Deutsch „mit den Engeln“, gehört zu den vielen türkischen Ortschaften, die einst armenische Namen trugen. Հրեշտակային war dieser Name, etwa „engelsgleich“. Die Türkisierung der Ortsnamen nach den ethnischen Säuberungen durch die Jungtürken im Zuge des Ersten Weltkriegs ging ohne viel kreativen Aufwand vonstatten. Vom Dorfkern läuft man eine halbe Stunde zu einem Museum, über dem vier überdimensionale Schwerter in den ostanatolischen Himmel ragen. Ein Mahnmal für die Türken soll das sein, die hier von Armeniern ermordet worden seien. Französische Korrespondenten nennen es in einer Publikation über den Stand der Aufarbeitung des Völkermords von 1915 eine „ultimative Karikatur der Leugnungspolitik des türkischen Staates“.Als das Mahnmal 1999 eingeweiht wurde, lebte Sinan Oğan noch sein erstes Leben als Akademiker – als Prodekan an der Aserbaidschanischen Staatlichen Wirtschaftsuniversität. Im Jahr darauf wechselte er zum ersten Think Tank der Türkei, dem Zentrum für Eurasische Strategieforschung. Gegründet wurde dieses von einem einflussreichen rechten Journalisten: Über Şaban Gülbahar weiß man eigentlich nur drei Dinge. Er steht der rechtsextremen MHP nahe. Er hat als Erster im Land begriffen, wie wichtig Think Tanks einmal werden würden. Und er dürfte für den jungen Sinan Oğan von enormer Wichtigkeit sein.Der Weg zurück zur MHPEs soll noch weitere elf Jahre dauern, bis das zweite Leben des Sinan Oğan beginnt: im Parlament in Ankara, als Abgeordneter seiner Heimatprovinz für die Partei seines früheren Arbeitgebers, die MHP. Heute koaliert die mit Erdoğans AKP – eine Entscheidung, die die Nationalisten viele prominente Köpfe gekostet hat. Denn die zwei rechten Strömungen in der Türkei, müssen sie sich auch hin und wieder gegen gemeinsame Gegner verbünden, sie sind sich spinnefeind.Die AKP repräsentiert die religiöse Rechte, Glaubensgeschwister, die nie warm geworden sind mit Republik und Nationalstaat, deren Welt sich eher um Mekka und Jerusalem dreht als um Ankara und Washington. Säkulare Rechtsextreme wie Sinan Oğan dagegen, deren parlamentarische Vertretung lange allein die MHP war, haben die Füße fest auf dem Boden der geopolitischen Tatsachen. Hier versteht man die Türkei als um ihren Weltmachtstatus betrogene Nation, prädestiniert zum ewigen Triumph über – wortwörtlich – Gott und die Welt. Die Regierungskoalition aus AKP und MHP war also von Anfang an eher Vernunftehe als Liebesheirat, viele wichtige Mitglieder kehrten dem neuen Bündnis nach langen Machtkämpfen den Rücken. Darunter Ankaras populärer Bürgermeister Mansur Yavaş, die heutige Vorsitzende der zweitgrößten Oppositionspartei Meral Akşener und ein damals noch recht unbekannter Abgeordneter namens Sinan Oğan.Oğan und der gesunde MenschenverstandSechs Jahre später, im März dieses Jahres, gab Oğan eine Pressekonferenz zur Verkündung seiner Kandidatur. Dort wurde er gefragt, wen er unterstützen würde, falls es zu einer Stichwahl käme. Man werde sich mit Weggefährten und Unterstützern beraten, antwortete er, man werde sich die Kader anschauen, sie „auf Kompetenz und Patriotismus prüfen“, unter die Lupe nehmen, „inwieweit sie mit dem Terrorismus in Verbindung stehen und hoffen, vom Terrorismus zu profitieren“. Eine Ansage an beide Kandidaten, schon damals. Denn an Erdoğans Seite steht mit HÜDAPAR die parlamentarische Vertretung einer islamistischen Miliz, die in den Neunzigerjahren im Südosten der Türkei wütete. Die linke HDP dagegen, für Sinan Oğan ein PKK-Gewächs, hatte schon früh die Unterstützung des Herausforderers Kemal Kılıçdaroğlu erklärt. Bei dieser Linie, beide Parteien als terroristisch einzustufen und klare Kante zu fordern, scheint er jetzt einen Kompromiss gemacht zu haben – bisher jedenfalls kein Wort zur HÜDAPAR. Alles in allem, so schloss er damals auf der Pressekonferenz, werde er mit gesundem Menschenverstand entscheiden. „Der gesunde Menschenverstand zeigt uns, dass wir vielleicht nicht das Paradies versprechen können. Aber es ist an der Zeit, die Tore zur Hölle zu schließen.“Jetzt also Erdoğan. Für Oğan gewissermaßen eine Heimkehr, zurück zur einstigen politischen Wiege, der MHP. Für den Rest der Türkei ebenfalls ein Zurück: zurück ins Ein-Mann-System, zurück zu Korruption und Vetternwirtschaft, zurück ins Elend des politischen Islam. Ein Paradies hat er wahrlich nicht versprochen. Aber wenn die Tore zur Hölle mal nicht gerade erst aufgehen.