Anschlag in Istanbul: Das gesellschaftliche Trauma ist zurück
Türkei Nach dem tödlichen Anschlag in einer Einkaufsstraße in Istanbul stellt sich für viele Menschen in der Türkei die Frage, ob es nun Parallelen zu den schicksalhaften Monaten im Jahr 2015 geben wird
Sicherheitspersonal sperrt die Einkaufsstraße Istiklal nach der Explosion weiträumig ab
Foto: Burak Kara/Getty Images
Am Sonntag, knapp ein halbes Jahr vor den Wahlen, wird die Türkei von einem Terroranschlag auf der beliebten Flaniermeile, der Istiklal-Straße, im Herzen Istanbuls erschüttert. Nach offiziellen Angaben kamen bei dem Anschlag sechs Menschen ums Leben, 81 Personen wurden verletzt. Unter den Toten befindet sich auch ein dreijähriges Kind. Die Nachricht und die schrecklichen Bilder vom Anschlag verbreiteten sich in Windeseile in den sozialen Medien, innerhalb kürzester Zeit wurden Zehntausende von Tweets versendet. Bereits am Nachmittag gab der Premier Recep Tayyip Erdoğan bekannt, dass es nach „einem Anschlag rieche“. Unmittelbar nach dem Anschlag wurde der Zugang zu den sozialen Medien landesweit gedrosselt und die türkische Rundfunk-Aufsichtsbe
fsichtsbehörde RTÜK verhängte eine Nachrichtensperre, was in den sozialen Medien zu Spekulationen führte.Die von der Regierung vorgenommene Aufhebung der Unterscheidung zwischen staatlichen Institutionen und der Regierung hat das Ansehen dieser Institutionen schwer beschädigt. Die türkischen Bürgerinnen und Bürger sind gegenüber offiziellen Erklärungen eher skeptisch und verlassen sich deshalb eher auf die sozialen Medien, um weitere Informationen zu erhalten.Auf Videos von Überwachungskameras war zu sehen, wie eine Frau ein Paket offenbar neben einer Bank auf der Einkaufsmeile ablegte, welches kurz darauf detonierte. Binnen 24 Stunden wurde die mutmaßliche Täterin in den staatsnahen Medien präsentiert. Bisher lautet die offizielle Erklärung, dass die Verdächtige Mitglied der YPG, des nordsyrischen Ablegers der PKK, war und dass sie gestanden habe, den Anschlag auf Anweisung der YPD ausgeführt zu haben. Die PKK und YPG hingegen erklärten am Dienstag, sie hätten den Anschlag nicht verübt. Der Innenminister Süleyman Soylu beharrt weiterhin auf der Täterschaft der PKK und der nordsyrischen Kurdenmiliz, da die mutmaßliche Täterin aus Afrin in Nordsyrien in die Türkei eingereist sei.In derselben Rede erklärte er jedoch, dass die mutmaßliche „Terroristin“ nach dem Anschlag von der Organisation hingerichtet werden sollte und dass die Organisation versuchte, sie nach Griechenland zu schmuggeln, was weitere Fragen aufwirft. Das umstrittene Verhalten von Innenminister Soylu beschränkt sich nicht allein auf diese Punkte. „Wir lehnen Ihre Beileidsbekundung ab“ war seine Antwort an die US-Botschaft, die nach dem Anschlag eine Beileidsbekundung abgab. Dies verstieß nicht nur gegen diplomatische Gepflogenheiten, sondern sorgte auch für eine Kontroverse – weil er damit andeutete, die USA seien für den Anschlag verantwortlich. Andererseits rief Erdoğans kurze Erwähnung des Anschlags in einer Presseerklärung und sein Abflug zum G20-Gipfel in Indonesien am Folgetag, ohne seinen Zeitplan zu unterbrechen, ebenfalls kritische Reaktionen in der Bevölkerung hervor. Präsident Erdoğan gab an, Soylu die weiteren Verantwortlichkeiten zu überlassen.Nach der Einschätzung politischer Beobachter im Land sei es nun möglich, dass die Regierung, die kein grünes Licht von Russland und Iran für einen Einsatz gegen Nordsyrien erhalten hat, diesen und mögliche neue Anschläge zur Rechtfertigung des Einsatzes nutzen könnte. Die Erwartung der politischen Beobachter, dass die Regierung versuchen wird, ihre Wählerunterstützung durch einen Diskurs über die nationale Sicherheit zu erhöhen, der vor den Wahlen noch verstärkt wird, kann als realistisch angesehen werden.Erinnerung an schicksalshafte Monate im Jahr 2015Für viele Menschen in der Türkei stellt sich nun die Frage: Werden wir das Jahr 2015 noch einmal erleben? Im Jahr 2015, wenige Monate vor den Parlamentswahlen, geriet der Friedensprozess zwischen der Regierungspartei AKP, der oppositionellen kurdischen Partei HDP und der Terrororganisation PKK in eine Sackgasse. Im März 2015 erklärte der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş in seiner Fraktionsrede, gerichtet an den Präsidenten Erdoğan: „Wir werden Sie nicht zum Präsidenten wählen“. Präsident Erdoğan setzte sich zu dieser Zeit für den Übergang zu einem Präsidialsystem in der Türkei ein, das die Befugnisse des Präsidenten unkontrollierbar ausweiten würde. Mit dem höchsten Stimmenanteil ihrer Geschichte gewann die HDP 80 Sitze im Parlament, das damals 550 Abgeordnete umfasste. Der Stimmenanteil der Regierungspartei AKP sank auf 41 Prozent und reichte nicht aus, um die Mehrheit für die Bildung einer eigenen Regierung zu erlangen.Die Gespräche über eine Regierungskoalition zwischen AKP, und den Oppositionsparteien CHP, MHP und HDP, die über Fraktionen im Parlament verfügen, wurden aufgenommen. Versuche, eine Regierung zu bilden, scheiterten, da die Koalitionsgespräche von der AKP und MHP blockiert wurden.Es folgten schicksalshafte Monate für die Türkei: Bei mehreren Anschlägen, verübt durch Selbstmordattentäter der IS und der PKK, kamen in vielen Teilen der Türkei Hunderte von Bürgern ums Leben. Wie etwa am 10. Oktober 2015. Dort töteten bei einem Anschlag auf eine Friedensdemonstration in Ankara von IS-Selbstmordattentäter 109 Menschen und verletzten mehr als 500. Trotzdem erzielte die AKP bei den erneuten Wahlen im November 2015 mit 49,5 Prozent der Stimmen einen erdrutschartigen Sieg und übernahm wieder alleinig die Macht. Die Spirale der Gewalt setzte sich nach den Neuwahlen fort und gipfelte in einem Putschversuch, mutmaßlich der Fethullah-Gülen-Sekte, im Juli 2016.Neuer Friedensprozess mit den KurdenObwohl gesellschaftliche Traumata den Zusammenhang zwischen den beiden Jahren, wo die Türkei vor richtungsweisenden Wahlen stand, schnell hergestellt haben, gibt es noch nicht genügend Hinweise, um eine solche Ähnlichkeit zu belegen. Im Jahr 2015 hatten die Zunahme von Anschlägen im Land und Präsident Erdoğans Versuche, sich die aufkommende nationalistische Welle gegen den Terrorismus zu eigen zu machen, politische Vorteile.Damals gab die Regierungspartei AKP ihr Bündnis mit der oppositionellen Kurdenpartei HDP und die Unterstützung der Kurden zugunsten der Stimmen nationalistischer Gruppen auf, was sich auszahlte. Heute gibt es jedoch keinen vergleichbaren Handlungsspielraum mehr. Im Gegenteil, ein Teil der Wähler, die durch die verfehlte Wirtschaftspolitik der Regierung extrem arm geworden sind, unterstützt die derzeitige Regierung, das AKP-MHP-Bündnis, nicht mehr.Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass die Gesamtstimmenzahl der AKP und der ultranationalistischen MHP vorläufig unter 40 Prozent gefallen ist. Um die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, müsste das Bündnis mehr als 50 Prozent erreichen. Genau aus diesem Grund steht seit langem auf der Tagesordnung, dass Erdoğan einen neuen Friedensprozess mit den Kurden einleiten könnte. Wird es ihm möglich sein, nach einer langen Periode nationalistischer und sicherheitspolitischer Politik mit der kurdischen Bewegung zusammenzukommen? Die Antwort ist kompliziert. Vor etwa zwei Wochen trafen sich Vertreter der AKP mit HDP-Abgeordneten im Parlament. Die Regierungspartei, die die HDP bei jeder Gelegenheit mit Terrorismus in Verbindung bringt und sie als verlängerten Arm der PKK bezeichnet, hat nicht gezögert, einen solchen Schritt zu unternehmen, wenn es nötig war.