Was Kinder brauchen

Armutsbericht Aus Anlass des Armutsberichts ein etwas älterer Text, der sich mit der damals aktuellen Frage nach dem Existenzminimum für Kinder beschäftigte. Das meiste passt noch.

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Was braucht ein Kind?

Geborgenheit, Anregungen, Perspektiven sprich Chancen, Bildung und Ausbildung. Regeln und Orientierung ebenso wie die Möglichkeit, sich den eigenen Platz zu suchen und zu entwickeln. Es wird wenig Widerspruch geben, wenn man diese zunächst abstrakten Begriffe deklamiert, um zu beschreiben, was ein Kind braucht, auch wenn die genannten sicher nicht abschließend sein können. Was das jeweils im Einzelnen bedeutet, wer da für was zu sorgen hat, wie hoch die Verantwortung der Eltern, der peer-group, der Schule, der Lehrer, der Erzieher und des Hortes und letztlich des Kindes/Jugendlichen selbst sein soll, darüber gehen die Auffassungen dann schon weiter auseinander. Eine Fülle von Ratgebern, Studien, Fernsehsendungen („Die Supernanny“ als Beispiel), Artikelserien in Zeitungen und Zeitschriften machen deutlich, wie hoch das Interesse am Thema quer durch alle Bevölkerungsschichten ist.

Das vorgebliche Interesse an Kindern, Jugendlichen und Bildungsfragen ist dementsprechend auch bei den Parteien hoch. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Schlagwörter (mehr war es leider nicht) von der „vorbeugenden Sozialpolitik“ des M. Platzek oder der „Bildungsrepublik“ mit angeschlossenem „Bildungsgipfel“ der A. Merkel. Die Ergebnisse beider – und leider auch aller weiterer – parteipolitischen Initiativen in jüngster Vergangenheit sind gering, bescheiden, nicht wirklich zu erkennen. Um so sicherer werden Bildung / Chancen / Jugend im Wahljahr 2009 die bekannten Luftblasen der behaupteten Ergriffenheit und des angeblichen Engagements der Bundes- und Landespolitiker von CDU/SPD/FDP/GRÜNE hervorbringen.

Kein Wunder. Denn in keinem europäischen Land sind die Bildungschancen von Kindern derart von ihrer sozialen Herkunft determiniert wie in Deutschland. Zugleich bedeutet heute Kinder zu haben, ein Vielfach höheres Armutsrisiko. In Armut leben: 20% der Paarhaushalte mit Kindern, 26% aller Kinder, ein Drittel der Alleinerziehenden, die meisten davon Frauen. Von Armut bedroht, also mit geringfügig höherem Einkommen und/oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen sind noch weitaus mehr Menschen in Deutschland.

Das dies vor dem Hintergrund der absehbaren demografischen Entwicklung für Deutschland als rohstoffarmes, auf Export, damit Qualität der Waren also auf gut ausgebildete Menschen angewiesenes, kleines Land ökonomischer Selbstmord auf Raten ist, sollte einleuchtend sein. Dass dennoch kaum etwas geschehen ist bzw. geschieht, um wenigstens die „ökonomischen Ressourcen“ junger Menschen zu heben, lässt sich wohl vor allem mit Verteilungskampf erklären. Es wird auf Teufel komm raus abgeschottet. Und es werden Menschen geschaffen, auf die mit Fingern gezeigt werden kann. Sündenböcke. Die ablenken sollen von Verteilungsungerechtigkeiten.

Entgegen den eingangs genannten weichen, eher abstrakten Faktoren wie Geborgenheit, Anregungen etc. sind die materiellen Parameter für ein Leben in „Würde“, das auch zur Teilhabe befähigt, durch den Regelsatz nach SGB XII exakt gefasst. Die Auswirkungen?

Null Euro für Windeln, dafür aber 11,89 Euro für alkoholische Getränke und Tabakwaren gesteht die Bundesregierung Säuglingen pro Monat im Regelsatz, unter anderem maßgeblich für Zahlungen nach Hartz IV, zu. 15jährige wiederum erhalten keinen Cent für Bildung, dafür aber 14,90 für Schnaps und Zigaretten, Was grotesk wirkt, ist Ergebnis der Logik, die Kinder als „kleine Erwachsene“ sieht und ihnen einen prozentualen Anteil am Erwachsenen-Regelsatz zubilligt. 60% für Kinder bis 14 Jahre, 80% für Heranwachsende und Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahre sind dies derzeit.

Seit langem fordert der PÄRITISCHE Bundesverband (früher Päritätischer Wohlfahrtsverband) einen eigenen Kinderregelsatz. Jetzt hat er mit einer Expertise „Zur Bestimmung eines bedarfsgerechten Existenzminimums für Kinder nach dem Statistikmodell gemäß § 28 SGB XII (Sozialhilfe)“ neuen Schwung in die Diskussion gebracht und zugleich den Druck auf die Politik rechtzeitig zum Wahljahr 2009 erhöht. Erste Erfolge zeigen sich bereits. So scheint heute nicht mehr die Frage zu sein, ob es einen eigenen Regelsatz für Kinder geben wird, sondern eher wann er kommt und wie hoch er sein wird.

Der PARITÄTISCHE kritisiert an der Bestimmung der Regelsätze für Kinder und Jugendliche insbesondere:

- die Regelsatzhöhe ist unzureichend

- die Regelsatzfortschreibung ist unangemessen

- eine Bedarfsermittlung für Kinder fehlt.

Diese bisher fehlende Bedarfsermittlung hat der Bundesverband mit der genannten Expertise nachgeholt. Er bezieht sich auf die gleiche Datengrundlage wie die Bundesregierung, die „Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2003“ und darin auf die 20% Menschen mit dem geringsten Einkommen, das so genannte unterste Quintil. Anders als die Bundesregierung jedoch wurden nicht Ein-Personen-Haushalte ausgewertet sondern Familien mit einem Kind. Auf die weiteren statistischen Unterschiede, die von den PARITÄTISCHEN getroffen wurden, soll hier verzichtet werden. Sie sind in der Expertise offen dargelegt (die Broschüre ist derzeit vergriffen, kann jedoch unter https://www.google.de/search?q=Zur+Bestimmung+eines+bedarfsgerechten+Existenzminimums+f%C3%BCr+Kinder+nach+dem+Statistikmodell+gem%C3%A4%C3%9F+%C2%A7+28+SGB+XII+%28Sozialhilfe%29&ie=utf-8&oe=utf-8&aq=t&rls=org.mozilla:de:official&client=firefox-a

gefunden und dann heruntergeladen werden).

Als Konsequenz fordert der PARITÄTISCHE die (Wieder)Einführung einmaliger und atypischer Leistungen, die Dynamisierung der Regelsätze anhand der Lebenshaltungskosten, die Erhöhung der Regelsätze für Kinder und eine andere Aufteilung der Altersklassen sowie den Aufbau der Infrastruktur vor Ort, „insbesondere inden Bereichen Bildung, Kultur und Sport – und Schaffung von kostenfreien bzw. stark kostenreduzierten Zugängen für Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Haushalten“ (Dr. Ulrich Schneider, 2008, in: Der PARITÄTISCHE, Zur Bestimmung eines bedarfsgerechten Existenzminimums für Kinder nach dem Statistikmodell gemäß § 28 SGB XII (Sozialhilfe), Seite IX).

Die Untersuchung belegt, dass die bisher gewährten 211 EUR (0 bis unter 14 Jahre) bzw. 281 EUR (ab 14 bis unter 18 Jahre) viel zu wenig ist und fordert:

- 276 EUR für Kinder bis unter 6 Jahre

- 332 EUR für Kinder von 6 bis unter 14 Jahre

- 358 EUR für Jugendliche von 14 bis unter 18 Jahre.

Basis hierfür ist das Ausgabeverhalten der 20% Menschen mit einem Kind mit dem geringsten Einkommen. Die Preis für die Waren wurden auf Discounter-Niveau erhoben. Also nicht wirklich ein Leben in Saus und Braus, das hier abgebildet wurde. Wichtiger als diese, nicht wirklich überraschende Erkenntnis erscheint die Feststellung, dass bei Vorliegenden der entsprechenden Infrastruktur zur gesellschaftlichen Teilhabe der Kinder, der Regelsatz nur geringfügig erhöht werden müsste (217 EUR bis 6 Jahre/ 250 EUR bis 14 Jahre/ 290 EUR bis 18 Jahre): „Auch hierüber liegen mit der Expertise konkrete Berechnungen vor. Von der freien Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, über Familienpässe, die zum stark verbilligten, freien oder limitierten freien Eintritt in Museen, Kultur- und Sportveranstaltungen berechtigen, bis hin zu Vereinbarungen mit Sportvereinen ließe sich eine ganze Palette von Maßnahmen denken, die sowohl den pauschalen Regelsatz entlasten, als auch eine zielgenaue Bedarfsdeckung sicherstellen könnten. Dies betrifft insbesondere die Position 'außerschulischer Unterricht in Sport oder musischen Fächern', 'Besuch von Sport- oder Kulturveranstaltungen bzw. -einrichtungen', 'Kinderbetreuung' u.ä. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die öffentliche Diskussion um Schulspeisungen und tatsächliche Lernmittelfreiheit.“ (Dr. Ulrich Schneider, 2008, in: Der PARITÄTISCHE, Zur Bestimmung eines bedarfsgerechten Existenzminimums für Kinder nach dem Statistikmodell gemäß § 28 SGB XII (Sozialhilfe), Seite IX).

Da ist es schon wieder. Das kostenlose Schulessen (damals ein Projekt in Potsdam, das nie verwirklicht wurde). Kein Wunder, liegen doch die regierungsseitig zugestandenen Ausgaben für Kinder in „Kantinen/Mensen“ für Kinder bis 14 Jahre bei 4,99 EUR pro Monat und für die unter 18jährigen immerhin bei 6,66 EUR/Monat. Auch das ermäßigte 1-EUR-Essen in Potsdam kann eben nicht aus dem normalen Regelsatz bezahlt werden.

Aus dem Geschilderten wird aber hoffentlich deutlich, dass

kostenloses Schulessen kein Sozialtransfer sondern eine Investition in Bildung ist

die Forderungen weiter reichen müssen.

Wir können auf die Höhe der Regelsätze von Potsdam aus nur mittelbar Einfluss nehmen. Was wir aber können, ist eine lebenswerte Stadt zu schaffen, die all ihren Kindern annähernd gleiche Chancen gewährt. Was wir können ist, eine Infrastruktur zu schaffen, die sozial, gerecht und solidarisch organisiert ist. Wie könnte diese Infrastruktur aussehen, was soll, was muss sie beinhalten, um Wirkung zu entfalten? Denkbar sind unter anderem:

kostenloser ÖPNV für alle Kinder bis 18, bis 6 auch für ein Elternteil

kostenlose Vereinsmitgliedschaft für Kinder

kostenlose Nachhilfe durch die VHS

ein Nachhilfepool durch Lehramtsstudenten, kostenlos

kostenfreier Eintritt in die städtischen Museen und Theater für Kinder und ein Elternteil

freie Theater geben nicht verkaufte Karten am Veranstaltungstag kostenfrei an Kinder und ihre Eltern ab

Musikschulen nehmen bedürftige Kinder umsonst auf

die Stadt organisiert kostenlose Kinderbetreuung, in dem Anbieter und Nachfrage zusammengebracht werden

dito für Nachhilfe

Hortbetreung und KITA-Plätze für alle wirklich finanzierbar.

Das Ergebnis wäre eine tolle, eine lebenswerte, eine wirklich familienfreundliche Stadt. Nicht alles wird man sofort einführen können, manches wird vielleicht für lange Zeit unerreichbar bleiben, einiges vielleicht für immer. Einiges ist heute vielleicht dringender, notwendiger als morgen und übermorgen. Wichtig bleibt für heute, die Diskussion zu beginnen, darum,, was ein Kind braucht. Was unsere Kinder in Potsdam brauchen.

Am Wegesrand der Diskussion wird man uns „unbezahlbar“, und „nicht zu finanzieren“, vielleicht „Sozialromantiker“ oder auch das schlimmste aller Totschlagargumente „unbezahlbarer Populismus“ entgegen halten. Aber was wäre die Alternative? Wie groß ist eigentlich, neben allen moralischen und ethischen Betrachtungen, der ökonomische Schaden für die Volkswirtschaft Deutschlands wenn wir rd. 40% unserer Nachkommen in Armut belassen? Wie teuer ist ein nicht seinen Möglichkeiten entsprechend ausgebildetes Kind, was kostet eine nicht gehobene Ressource an Wissen, Fantasie und schöpferischer Kraft? Neben vergeudeten Lebenschancen für die Kinder und Jugendlichen bedeuten verweigerte Bildung und Teilhabe eben auch Verzicht auf Einnahmen und Produktivität sowie erhöhte Inanspruchnahme von (Transfer)Leistungen. So gesehen, ist der Ansatz der „vorbeugenden Sozialhilfe“ durchaus korrekt, darf nur nicht als Vorwand für Kürzungen verwandt werden.

Deshalb: lasst uns alle ansprechen. Sportvereine, Musikschulen, Kulturschaffende, Lehrer, Eltern etc., die durch Eigenleistungen, Verzicht auf Mitgliedsbeiträge und kostenfreie Nachhilfe oder Kinderbetreuung mitmachen wollen. Lasst uns die Diskussion beginnen, uns über Prioritäten streiten und die Landeshauptstadt Potsdam so weit wie irgend möglich verpflichten. Lasst uns mit dem kostenlosen Schulessen anfangen bzw. weitermachen, aber eben da nicht aufhören. Lasst uns eine „Sozialcharta“ für Potsdam starten und da hinein den Schwung aus den Diskussionen aus dem Toleranzedikt mitnehmen. Vor dem Hintergrund von anstehenden Debatten zu „20 Jahre Mauerfall“ ein nach vorne weisendes Vorhaben, hoffentlich nicht das Einzige ...

Und vielleicht findet sich auch noch ein Mäzen, der nicht an Steinen und Schlössern, sondern an Menschen interessiert ist und das Grundkapital in eine Stiftung einbringt, die diese solidarischen Leistungen mitfinanziert und verstetigt.

P.S. Den Potsdambezug, das "wir" lasse ich mal so stehen, auch wenn sich das mittlerweile weitgehend erledigt hat für mich. Aber das ist eine lange und ganz andere Geschichte.

P.P.S. Einige Die allermeisten Zahlen werden nicht mehr stimmen, der Text ist aus 2009 und vor der Anpassung des Regelsatzes für Kinder und Jugendliche geschrieben, die Tendenz bleibt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

oi2503

Wat dem een sin uul is dem annern sin nachtigall

oi2503

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