Adieu, wilde Zeit der Jugend

EIN NACHWORT Direktor Marco Müller tritt zurück, sein Festival in Locarno will erwachsen werden

Das Festival in Locarno, lokal wie terminlich "eingeklemmt" zwischen Cannes und Venedig, setzte sich im Laufe der Jahre immer höhere Ansprüche, die über gewöhnliche Programmpolitik hinausreichten. Schließlich rief sein ehrgeiziger Direktor Marco Müller sogar eine Stiftung ins Leben, die - sozusagen begleitet vom Festival - die Produktion von Autorenfilmen mitfinanzierte und selbst zur sicheren Aufführung führte. Dann strebte er die Gründung eines Festivalverleihs an.

So wurde Locarno zwangsläufig zum Produzent und Verleiher der eigenen Programme. Mehr noch: In diesem Jahr erklärte der Direktor, er beabsichtige ein eigenes Filmarchiv zu gründen. Den Grundstein sollten die fürs Festival eigens neu gezogenen Kopien von 30 alten russischen Filme legen, die in der diesjährigen Retrospektive Eine andere Geschichte des sowjetischen Films liefen. Mit diesem Schritt sollte nun auch die Vergangenheit des Kinos usurpiert und quasi nach Locarno verlegt werden. Doch das ist noch nicht alles: diese Initiative war mit der Aufforderung an die Historiker verbunden, eine neue (eine andere) Filmgeschichte zu schreiben, für die eben das Festival Richtlinien ausgebe, wie es im Katalog hieß. Was aber schlug von diesen Projekten auf die Festivalrealität durch?

Während sich früher Locarno als Ort der Entdeckung ungewöhnlicher Filme von jungen Filmemachern verstand, wurde es nun mehr und mehr zum Showroom 'eigener Produktionen', was den freien Austausch zwischen Filmproduktion und Festivalprogramm eher einengte. Während sich früher die Redakteure von Fernsehstationen hier neue Filmemacher ausguckten und deren Arbeiten zu entdecken suchten, ist mittlerweile auch Locarno zu einer Art Messe von Fernsehproduktionen geworden.

Das Festival versuchte, auf Wiederholungen zu setzen (B-Pictures, Boris Barnet etc.) und wollte dabei scheinbar nicht bemerken, daß im Programm längst nicht mehr, wie versprochen, die Arbeiten der frechen Jungen zu sehen sind, sondern die inzwischen kommerziellen Produktionen der einst gerade in Locarno präsentierten Debüts, also von John Singeltons Boyz'n the hood (1991) nun zu Shaft im Jahr 2000. Das setzte endgültig ein Zeichen für den Wechsel - hin zum "Erwachsensein" des üblichen Filmbetriebs. Und der am letzten Tag des Festivals überraschend erklärte Rücktritt des Festivaldirektors Marco Müller klang in diesem Zusammenhang lange nicht so überraschend. So sind die utopisch-grandiosen Pläne von einem Festival als Gesamtkunstwerk wie vom Winde verweht, und Locarno geht zur Tagesordnung von Kino- und Festivalalltag über.

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