Wer etwas über den Bedeutungsverlust der SPD im Ruhrgebiet erfahren will, sollte einen steinernen Turm im ehemaligen Bergarbeiterstadtteil Dortmund-Eving aufsuchen: Mit ein bisschen Glück trifft man dort am „Wetterschacht V“ Werner Böttger bei der Gartenarbeit. Der Mann mit dem grauen Vollbart ist Mitte 70 und immer noch ein Hüne. Nach Schließung der Zeche Minister Stein vor 23 Jahren hat ihr letzter Betriebsführer den Turm gekauft, der heute ein Denkmal ist. Der 925 Meter tiefe Schacht darunter, der die Bergleute einst mit Frischluft versorgte, ist verfüllt.
Es ist ein Bild vergangener Industriekultur im Ruhrgebiet. Und irgendwie gehört auch die SPD dazu. Böttger steht in klobigen Gummistiefeln auf der Wiese und füttert Gänse. Früher hatte er 5.500 Männer unter sich und so ziemlich alle Funktionen inne, die man als Bergmann hier besetzen konnte: vom Bundesgeschäftsführer der Berghütten- und Knappenvereine über den Betriebsführer der Zeche und den Evinger Bezirksvorsteher bis zum sozialdemokratischen Ortsvorsitzenden. In zwölf Vereinen war Böttger Mitglied, bei den Fußballern von Phoenix, den Kaninchenzüchtern, den Hühnerfreunden und so weiter. Böttger ist bis heute in der Gewerkschaft. Und immer noch in der SPD.
Die Partei hat noch 750 Mitglieder in dem Dortmunder Stadtteil. Zu Böttgers Zeiten waren es doppelt so viele. Er war der König von Eving. „Als ich das erste Mal für die SPD als Bezirksvorsteher kandidierte, hatte ich niederbayerische Ergebnisse – 78 Prozent. Na, überlegen Sie mal, an jedem der Bergleute hingen doch noch vier Menschen mit dran.“ Und Böttger hat allen die Empfehlung gegeben, die Sozialdemokraten zu wählen. Eine Hand wäscht die andere. „Ich habe unseren Leuten immer gesagt, ihr braucht euch über Bayern und die CSU nicht zu beschweren, bei uns läuft es doch genauso“, amüsiert sich Böttger über die Zeit, als das geflügelte Wort von Herbert Wehner noch Gültigkeit besaß, dass nämlich „Dortmund die Herzkammer der deutschen Sozialdemokratie“ sei.
Verluste wie sonst nirgendwo
Seit der Kommunalwahl 1999 ist das Geschichte. Fast überall im Pott verlor die SPD damals zweistellige Prozente. Das war kein Ausreißer, sondern der Beginn eines tiefen Abstiegs. Auch die Dortmunder Sozialdemokraten büßten erstmals ihre Ratsmehrheit an die CDU ein. Der designierte OB-Kandidat und Hoffnungsträger der NRW-SPD, Franz-Josef Drabig, stolperte seinerzeit über eine peinliche Rotlichtaffäre. Sogar die New York Times berichtete. Nur mit größter Mühe konnte Ersatzkandidat Gerhard Langemeyer damals den OB-Posten für die SPD behaupten.
„Das war der Anfang vom Ende der SPD-Vormacht im Ruhrgebiet“, resümiert ein anderer, der wie Werner Böttger ebenfalls Teil des historischen SPD-Erbes im Ruhrgebiet ist: Wolfgang Clement. Bevor Willy Brandt ihn als Sprecher des Parteivorstandes nach Bonn holte, arbeitete Clement in Dortmund für die Westfälische Rundschau. Damals wurde auf Minister Stein in Eving noch Kohle gefördert und der Wahlkreis war Erbhof der SPD: Das Direktmandat für den Bundestag war sicher.
Bei der Bundestagswahl im Herbst 2009 kamen die Sozialdemokraten in Eving gerade noch auf 42 Prozent und schickten Ulla Burchhardt nach Berlin. In ganz Dortmund verlor die SPD 15 Prozent, die Verluste waren noch massiver als anderswo in Deutschland. Die Herzkammer hatte ihren Infarkt und die Prognosen sind ungünstig. Clement glaubt jedenfalls nicht, dass „die SPD wieder zur alten Stärke im Ruhrgebiet kommt“. Weder jetzt, zur Landtagswahl am 9. Mai, noch später.
Abkehr der Stammwähler
Clement ist inzwischen bei den Sozialdemokraten ausgetreten, nach rechts, wenn man so will. Er tourt heute mit dem CDU-Dissidenten Friedrich Merz und trommelt für neue Reformen. Von der SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft hält Clement, der einst ihren Aufstieg ermöglichte, nicht viel. Umgekehrt hält sich unter Sozialdemokraten auch die Begeisterung für den Ex-Superminister in ziemlich engen Grenzen.
Als Jürgen Rüttgers, der angebliche „Arbeiterführer“, 2005 das Düsseldorfer Ministerpräsidentenamt von Clement übernahm, war die Erosion der SPD in Nordrhein-Westfalen schon weit vorangeschritten. Und sie hatte gravierende bundespolitische Auswirkungen. Gerhard Schröder hat später oft erklärt, dass ihn die verlorenen NRW-Landtagswahlen zu Neuwahlen im Bund bewogen hatten. Deren Ausgang ist bekannt. So kostete der SPD die Abkehr ihrer Stammwähler aus dem Ruhrgebiet die Macht.
Fragt man nun Dortmunder Genossen, was der Hauptgrund für diese Abkehr gewesen ist, landet man wieder bei Wolfgang Clement. Der hatte die so genannten Sozialreformen maßgeblich vorangetrieben. Der Dortmunder SPD-Unterbezirk stimmte seinerzeit gegen die Agenda 2010. Als sie dennoch umgesetzt wurde, erfasste eine Austrittswelle die Partei, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Vor allem nicht in ihrer einstigen Herzkammer. Spätestens seit der vergangenen Bundestagswahl ist die SPD keine Volkspartei mehr.
Das muss Franz-Josef Drabig, der inzwischen dem Unterbezirk vorsteht, naturgemäß anders sehen. Für ihn macht die „Dortmunder SPD ihrem Anspruch einer Volkspartei alle Ehre“. Schließlich würde man „in Dortmund an jeder Straßenecke einen Sozialdemokraten treffen.“ Trommeln gehört zum politischen Geschäft. Aber vor 20 Jahren konnten die Sozialdemokraten noch damit werben, dass jeder rote Stammwähler einen Genossen zum Nachbarn hat. Das ist der Unterschied.
Politik für die kleinen Leute
Vielleicht hat ein Begriff wie „Volkspartei“ gerade deshalb Konjunktur unter Sozialdemokraten – als Beschwörungsformel gegen den faktischen Bedeutungsverlust. Wo immer ein wahlkämpfender Genosse ist, wird von der „Volkspartei“ SPD gesprochen. Der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel etwa baut die Formulierung gerne in seine Antworten ein, auch Hannelore Kraft. Es geht um Selbstvergewisserung und die Mobilisierung der verbliebenen Stammwähler.
Denn längst profitiert die Linkspartei vom sozialdemokratischen Basisfrust, vor allem unter den Gewerkschaftern. Die Partei hat ihren Landtagswahlkampf mit Bedacht in Dortmund gestartet, der größten Stadt im Ruhrgebiet. Zwischen Hamm und Duisburg hat sie die größten Chancen. Das wissen sie auch im Evinger Nachbarschaftshaus, bei der örtlichen SPD, wo man sich schon lange Sorgen über den Aufstieg der Linken und den eigenen Abstieg macht.
Loch im Etat, Wunde im Herz
„Wir haben vergessen, dass unsere Herzen als Sozialdemokraten links schlagen“, sagt der Ortsvorsitzende Dirk Meyer-Jäkel, ein leitender Angestellter bei einem Tochterunternehmen der Stadt. Eine Arbeiterpartei ist die SPD selbst in Eving nicht mehr. Der einzige Arbeiter im hiesigen Ortsverein arbeitet als Hausmeister – bei der Arbeiterwohlfahrt. Meyer-Jäkel meint, die Partei könne ihre Krise nur überwinden, wenn wieder mehr Genossen zu den Vereinen und in die Kneipen gingen, und wieder Politik für die kleinen Leute machten. „Ich glaube, wenn Sie den richtigen Mann da hätten oder die richtige Frau, dann könnte man hier wieder Wahlergebnisse wie früher erzielen – 20 Prozent über dem Bundestrend.“
Aber nicht am 9. Mai. Die Zahl der bislang in der Stadt eingegangenen Briefwahlanträge lässt auf eine niedrige Beteiligung schließen. Viele Genossen fürchten das noch mehr als die Konkurrenz der Linkspartei. Der Exodus der SPD-Wähler führte zum größten Teil in die Passivität. Und der Politikverdruss in der Stadt ist weiterhin groß. Zu Jahresbeginn erst hatte der vor acht Monaten gewählte SPD-Oberbürgermeister Ullrich Sierau sein Amt niedergelegt. Er soll in eine Haushaltsaffäre verstrickt sein. Angeblich hat der damalige Verwaltungschef vor seiner Wahl im vergangenen Jahr nichts von dem riesigen Loch im Etat gewusst. Wieder so eine Wunde im Herz der SPD. Besserung ist auch bei der Landtagswahl nicht zu erwarten.
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