„Die Wirtschaft schwächelt, das geht auch an uns nicht vorbei“, sagt Silvio Rosenbusch. Durch ein Fenster in seinem Büro kann der Betriebsratsvorsitzende direkt in die Produktionshalle von Widia blicken. Hier werden Bohrer für den internationalen Markt, etwa für die Luft- und Raumfahrttechnik, produziert und nachgeschliffen. Es ist Mitte März, kurz bevor die Corona-Krise weite Teile der deutschen Wirtschaft lahmlegen wird – und es steht ein „Restrukturierungsprogramm“ an, das die Belegschaft am Thüringer Standort Königsee stark dezimieren soll. Insgesamt 70 von 230 Beschäftigten sind davon bedroht, „das ist natürlich für uns in der Region ein herber Einschnitt“, sagt Rosenbusch.
Viele Arbeitsplätze in Königsee und Umgebung hängen an Widia, die Familiengeschichten sind mit dem Unternehmen eng verbunden. So ist es auch bei Rosenbusch, dessen Vater schon seit 1979 hier arbeitet. Damals war die Werkzeugfabrik Königsee noch ein Volkseigener Betrieb der DDR. Auf die Wende folgte die Privatisierung, 2002 wurde Widia vom global tätigen US-Konzern Kennametal aufgekauft. Ein Jahr später begann Rosenbusch seine Ausbildung, und auch sein Bruder ist bis heute bei Widia angestellt. Denn die Beschäftigungsverhältnisse sind gut, das Unternehmen zahlt Tariflohn.
Doch in letzter Zeit hat sich die Situation verschärft: Kennametal will seine Betriebsstätten in Deutschland umstrukturieren und die Produktion zentralisieren. Das Werk in Essen sollte bereits geschlossen werden, nur durch starke Zugeständnisse der Belegschaft konnte eine Standortsicherung bis Sommer 2022 erwirkt werden. Nun gerät Königsee unter Druck: Der Nachschleifservice soll nach Polen verlagert werden, wo das Lohnniveau niedriger ist, die modularen KSEM-Bohrer für den asiatischen Markt sollen in Zukunft direkt vor Ort hergestellt werden – in Tianjin in China. Und auch die Stäbefertigung könnte umziehen, ins Bayerische Vohenstrauß.
„Nicht so, wie ihr denkt!“
„Manche unternehmerischen Entscheidungen kann ich nachvollziehen, ja. Aber die haben den Weitblick nicht. Die sehen ihr Projekt, das muss jetzt umgesetzt werden, aber wie das dann wirklich funktioniert, das wollen sie gar nicht sehen“, meint Rosenbusch. Dass der in Vohenstrauß geplante Hallenanbau die richtige Größe hat, zweifelt er an: „Was ist jetzt, wenn sie die Kapazität nicht erreichen, und sie müssen noch zehn Maschinen mehr kaufen? Dann haben sie keinen Platz! Weil das Ding schon so kalkuliert ist, dass das nichts wird. Wir haben hier Platz ohne Ende, wir haben hier Kapazitäten.“ Und was meint das Unternehmen zu seinen Bedenken? Das passe schon. „Das ist übrigens immer die Antwort: ‚Es ist nicht so, wie ihr denkt!‘“, lacht Katja Barthold, die neben Rosenbusch sitzt.
Im Winter 2018 hat die Gewerkschaftssekretärin der IG Metall einen 24-stündigen Streik bei Widia mitorganisiert, um mehr Gehalt zu erkämpfen. Heute betreut sie den Betrieb, und sie teilt Rosenbuschs Kritik am „Restrukturierungsprogramm“. Vor allem die Verlegung eines Teils der Produktion nach Vohenstrauß kann Barthold nicht nachvollziehen, denn aus Arbeitgebersicht besitzt das ostdeutsche Werk einige Vorteile: Die Löhne sind niedriger als in Westdeutschland, die Arbeitszeiten länger.
Dieses Argument haben Barthold und Rosenbusch auch vorgebracht – wohlwissend, dass sie damit unfreiwillig in direkte Konkurrenz mit den anderen Produktionsorten treten. Auch wenn die Betriebsräte laut Rosenbusch gut miteinander kooperieren und versuchen, sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen, ist am Ende des Tages jeder Betriebsratschef seiner Belegschaft vor Ort verpflichtet. Die eigentliche Logik des Arbeitskampfes scheint außer Kraft gesetzt, der Gegner ist nicht der Arbeitgeber, sprich: das Kapital, sondern der Kollege in Bayern. Diese Karte wird offen ausgespielt. Bei einer Verhandlung über den Interessenausgleich soll ein hoher Vertreter der Arbeitgeberseite gesagt haben: „Wollt ihr wirklich vor Gericht gehen? Das wirft ein schlechtes Licht auf euch als Standort!“.
An diesem Tag Mitte März ist die Gewerkschafterin in Königsee, um die Forderungen ihrer Mitglieder an die IG Metall einzuholen. Auf eine mitgebrachte Pappwand sollen die Wünsche geschrieben werden. Als Barthold und Rosenbusch in der Werkshalle auf den ersten Mitarbeiter zugehen, erschrickt er, befürchtet die Hiobsbotschaft, dass er bald arbeitslos sein wird. Erst, als er merkt, dass die Bedrohung vorerst gebannt ist, zeigt er sich erleichtert. „Keiner weiß, wen es trifft“, meint der Betriebsratschef später über die Angst der Beschäftigten.
Die Leiharbeiter sind als erste dran
Für die Festangestellten, die im Zuge des Umbaus von Kennametal gehen sollen, kann er noch verhandeln. Für sie wird gemeinsam mit der Arbeitgeberseite eine Transfergesellschaft eingerichtet, um bei der Arbeitssuche zu helfen, sie fortzubilden und ihren Lohn für die Zwischenzeit aufzustocken. Damit fallen die Beschäftigten nicht sofort in die Arbeitslosigkeit, 12 Monate lang sollen sie in der Transfergesellschaft sein.
Doch viele der nun Beschäftigungslosen profitieren von der Transfergesellschaft gar nicht. Ihre befristeten Verträge laufen aus, oder sie werden einfach abgemeldet – wer Leiharbeiter ist, hat keinen Kündigungsschutz. So erging es Matthias Bremert*, der nicht einmal eine Woche vor seinem letzten Arbeitstag informiert wurde, dass er bald arbeitslos sein würde. Die kurzfristige Mitteilung macht ihn wütend, denn er ist sicher, dass schon lange vorher feststeht, wer gehen muss. „Belegen kann man das natürlich nicht, aber andere aus der Führungsriege, die mit in den Büros sitzen, die teilen uns das mit und sagen, dass da was in Gange ist.“
Im Sommer 2017 hat er bei Widia als Leiharbeiter angefangen, in der Werkzeugvorbereitung für die Schleifmaschinen. Dort hat er die abgenutzten Schleifscheiben gereinigt und wiederhergestellt, mehr als zweieinhalb Jahre lang. Heute befindet er sich in einem Rechtsstreit mit Widia, da er aufgrund seiner mehr als zweijährigen Betriebszugehörigkeit eine Festanstellung fordert. Aber er macht sich kaum Hoffnungen, denn selbst im Falle eines gewonnenen Rechtsstreits könnte sein Arbeitgeber ihn innerhalb der ersten sechs Monate entlassen.
Auf das „Restrukturierungsprogramm“ angesprochen, meint er: „Man muss es teilweise stupide nennen. Königsee schreibt eigentlich schon immer schwarze Zahlen, und jetzt wird Geld verbrannt – warum auch immer. Auch der Werksleiter konnte uns das nicht erklären, als wir Meetings hatten. Da wird abgelenkt und die Frage gar nicht beantwortet, und alle im Raum haben gemerkt: Der wollte es gar nicht beantworten, und vielleicht konnte er es auch nicht.“
Die Konkurrenz anheizen
Nachdem bekannt wurde, dass Kennametal den Abbau von 70 Arbeitsplätzen plant, soll die Konkurrenz innerhalb der Belegschaft immer stärker geworden sein: „Es hat wirklich keinen Spaß mehr gemacht, dahin zu gehen. Wenn man nach der Frühstückspause kurz an die frische Luft gegangen ist, dann wurde minutengenau gemeldet, wer zulange draußen war.“ Und nicht nur von den Kollegen, sondern auch von seinen Vorgesetzten soll Bremert Druck bekommen haben: „Wir sind zweimal die Woche ins Büro und haben gesagt, dass wir nicht schneller können. Daraufhin kamen Drohungen wie ‚Wenn ihr nicht schneller macht, werdet ihr ausgelagert!‘“.
Nach dieser Erfahrung ist er alles andere als traurig, dass seine Zeit bei Widia nun ein Ende hat. „Es sind ja vor mir schon viele gegangen, die wurden behandelt wie der letzte Dreck. Die predigen hier ihre ethischen Leitsätze, und als normaler Mensch muss man schon drüber schmunzeln, wenn man das liest!“
Damit spielt er auf die Kennametal-Werte an, die CEO Chris Rossi noch im letzten Herbst stolz auf dem unternehmenseigenen YouTube-Kanal postuliert hat. Sicherheit, Respekt, Integrität. Und besonders: „Verantwortung füreinander, für Kunden, Aktionäre, die Umwelt, und die Gemeinden, in denen wir agieren. Nach diesen Werten leben wir jeden Tag. Unsere Mission, Vision und Werte sind mehr als nur Worte auf Papier!“
Diese Versprechungen klingen wie der blanke Hohn für die abgemeldeten Leiharbeiter, die Befristeten, deren Verträge ausgelaufen sind, die entlassenen Festangestellten. Sie werden es schwer haben, eine ähnlich gute Anstellung in der Umgebung zu finden. Viele Arbeitgeber sind nicht im Arbeitgeberverband – und ihre Betriebe damit nicht tarifgebunden. Auf der Rückfahrt durch die Thüringer Landstraßen zeigt Katja Barthold auf die Betriebe, die am Straßenrand auftauchen, und die sie betreut. Auf das Unternehmen für Digitalanzeigen, wo die IG Metall kürzlich den Arbeitskampf verloren hat; auf den Schrottplatz, wo giftiger Müll verbrannt worden sein soll. Früher gehörten die Unternehmen in der Gegend zu wenigen Volkseigenen Betrieben, seit der Privatisierung durch die Treuhand sind es viele kleine Betriebe, was die Arbeit für Katja Barthold erschwert. Grundsätzlich gilt: Die gezahlten Gehälter sind da besonders niedrig, wo es auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist.
Die Möglichkeiten, eine neue Anstellung zu finden, sind für die Beschäftigten in Königsee begrenzt. Auch deshalb ist die Angst bei ihnen so groß – die Angst, als nächstes die Sachen packen zu müssen, aber auch, dass die Kündigungswelle nur der Anfang vom Ende für das Thüringer Werk ist. Heute, einen Monat später, ist die Zukunft immer noch ungewiss: Eine endgültige Entscheidung über die Verlagerung der Stäbefertigung nach Bayern wurde noch nicht getroffen.
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