Schüsse, Küsse

Narzissmus Im Selfie will Wolfgang Ullrich das Gesicht der Demokratie erkennen. Finde den Fehler
Ausgabe 21/2019
Keine Kulisse taugt nicht auch für die eigene Inszenierung
Keine Kulisse taugt nicht auch für die eigene Inszenierung

Foto: Sajjad Hussain/AFP/Getty Images

Groß war die Hoffnung zu Beginn des digitalen Zeitalters, das Internet würde ein Medium der Demokratisierung und Vernetzung hin zu einer besseren Welt werden. Diese Zukunftseuphorie ist Resignation gewichen. Wenige Unternehmen haben die vernetzte Kommunikation in der westlichen Welt unter sich aufgeteilt, während andernorts die digitale Diktatur errichtet wird.

Also Hoffnungslosigkeit allerorten? Nein! Eine kleine Gemeinde unbeugsamer Optimisten hört nicht auf, dem Kulturpessimismus Widerstand zu leisten. Sie reicht vom Silicon Valley bis nach Leipzig. Da arbeitet Wolfgang Ullrich. Als „Rückkehr des öffentlichen Lebens“ und „ersten Typus einer demokratisierten und globalisierten Bildkultur“ betrachtet der Kulturwissenschaftler das Selfie, also das moderne Selbstporträt in den sozialen Medien.

Wessen Produktionsmittel?

Heute könne jeder Bilder produzieren und veröffentlichen, glaubt Ullrich – ganz im Gegensatz zu früheren Zeiten, als dies einer kleinen, privilegierten Gruppe vorbehalten war. Optimistisch sieht er die Entwicklung einer gattungsspezifischen Bildsprache: Jeden Tag würden die Möglichkeiten der Inszenierung vielfältiger, würde die optische Selbstoptimierung vorangetrieben. In der Zukunft, prognostiziert Ullrich, könnten für das perfekte Selfie sogar „mikrochirurgische Eingriffe“ vorgenommen werden: „Nie zuvor wird so viel Kultur in jedem einzelnen Gesichtsausdruck gewesen sein.“ Als wichtiges Instrument, um unseren Empfindungen und Gedanken Ausdruck zu verleihen, sieht er die Foto-Filter an, die sich in Messenger-Apps auf Bilder legen lassen. Fast täglich werden neue Filter geschaffen. Es scheine beinahe auf der Hand zu liegen, dass es bald auch „mimische Konventionen für bestimmte politisch-weltanschauliche Einstellungen“ gibt.

Doch ist dem wirklich so? Und welcher Demokratiebegriff liegt dieser optimistischen Prognose zugrunde? Dass die Fotografen nur bedingt über ihre eigenen Gestaltungsmittel verfügen, lässt Ullrich nämlich außen vor.

Doch gerade die Eigentumsverhältnisse sind von hoher Relevanz: Wenn Selfies mithilfe von Apps bearbeitet werden, die Facebook gehören, ist es unwahrscheinlich, dass zum Beispiel eine radikale politische Haltung wie „Zerschlagt die Tech-Giganten“ eine eigene Ausdrucksform erhalten wird. Hier zeigt sich bereits, wie unklar die Demokratisierung, die Ullrich in der Entwicklung des Selfies erkennt, ist. Erhalten wir wirklich unendliche Ausdrucksformen? Oder wird uns hier eine Vielfalt vorgegaukelt, die nur so lange anwächst, wie sie ihren Entwicklern nicht wehtut? Und darf wirklich alles dargestellt werden? Die Richtlinien einiger sozialer Netzwerke sind immer noch so prüde, dass eine entblößte weibliche Brust bereits als den Nutzern unzumutbar gilt.

Diese Fragen verdienen durchaus Aufmerksamkeit, für Ullrich drückt sich in der Kritik an der digitalen Bilderwelt jedoch vor allem ein „reaktionär-undemokratischer“ Kulturpessimismus aus, welcher die Möglichkeit zur Erschaffung von Bildern wieder in die Hände einer privilegierten Minderheit legen wolle. Die ökonomische Komponente von Demokratie bleibt in seinem Band jedoch unbeachtet.

Widersprüchlich erscheint auch seine Analyse, die Kritiker des Selfies würden nur das Private als „das Eigentliche“, das Öffentliche hingegen als „defizitär ansehen“. Dass die von ihm als Beispiele präsentierten Bilder häufig eine große Öffentlichkeit erreichen sollen, lässt sich nicht leugnen. Jedoch sind die abgebildeten Gesten, Handlungen und Erlebnisse in einem politischen Sinne nie von öffentlichem Interesse, stellen eher eine Flucht ins allzu Private dar: Grimassen auf Wanderungen und Küsschen im Park sind da zu sehen. Dass diese Alltagsschnappschüsse im Regelfall kaum jemanden wirklich interessieren, ist für Ullrich zweitrangig. Allein die quantitativ erreichte Öffentlichkeit zählt, die Qualität der Kommunikation bleibt unreflektiert. Angesichts solcher Leerstellen wäre es zumindest wünschenswert gewesen, Ullrich hätte die weniger Zukunftsfreudigen nicht als völlig bemitleidenswerte Idioten dargestellt.

Info

Selfies Wolfgang Ullrich Wagenbach 2019, 80 S., 10 €

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Geschrieben von

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