Werbung statt Bildung

Lobby Der Staat hungert Schulen aus, Firmen springen ein. Dadurch halten Lehrmittel voller Ideologie Einzug ins Klassenzimmer
Ausgabe 43/2019
Liebesbriefe seien ein „Denkmal, das ein Mensch hinterlassen kann“, findet die Post
Liebesbriefe seien ein „Denkmal, das ein Mensch hinterlassen kann“, findet die Post

Foto: Imago Images/Kickner

Das Land der Dichter und Denker drohe zum Staat der Stifter und Schenker zu werden – so beschrieb Tim Engartner schon vor drei Jahren in seinem Buch Staat im Ausverkauf den Einfluss privater Wirtschaftsakteure auf das deutsche Bildungssystem. Fast-Food-Giganten, die in kostenlosen Unterrichtsbroschüren BigMacs in eine Reihe mit Obst stellen; Finanzdienstleister, die „Entrepreneurship Education“ etablieren wollen – derartige „Bildungspartnerschaften“ kritisierte der Frankfurter Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften scharf.

Nun hat Engartner nachgelegt: In seiner Studie Wie DAX-Unternehmen Schule machen, die er für die Otto Brenner Stiftung verfasst hat, widmet er sich erneut dem Thema Lobbyismus an Schulen, inbesondere am Beispiel von DAX-Firmen. Denn die sind besonders umtriebig: Zwanzig der dreißig größten deutschen börsennotierten Konzerne versuchen mithilfe eigener Unterrichtsmaterialien auf die im Klassenzimmer vermittelten Lehrinhalte und Werte Einfluss zu nehmen.

Einige Unternehmen versuchten, Schülern ihre Produkte und Dienstleistungen spielerisch näherzubringen. Zum Beispiel die Deutsche Post, die für Heranwachsende ein Lehrheft zum Thema Liebesbriefe erstellt hat. Dort heißt es, Liebesbriefe seien „ein wichtiges Denkmal, das ein Mensch hinterlassen kann“. Dass ein solches Herzensdenkmal auch zu einer kleinen Portozahlung verpflichtet, dürfte dabei ein hübscher Nebeneffekt sein.

Da explizite Produktwerbung in deutschen Klassenzimmern im Regelfall verboten ist, sind derartig blumige Umwege nötig. Für Sponsoring gilt das jedoch nicht. Viele Schulen benötigen Unterstützung durch private Sponsoren, die die Finanzierung von Computern, Regalen und Unterrichtsmaterialien ermöglichen. Das liegt daran, dass Deutschland unterdurchschnittlich viel Geld für Bildung ausgibt: 4,2 Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes gehen an Bildungseinrichtungen, während der OECD-Durchschnitt bei fünf Prozent liegt. Hier tut sich ein politisches Vakuum auf, das von privaten Unternehmen gefüllt wird: Während der Staat immer weniger Geld für Lehrmittel ausgibt, produzieren deutsche Firmen immer mehr Broschüren für den Unterricht.

Bemerkenswert raffiniert

Dabei sind nicht alle Engagements der DAX-Unternehmen in ihrer Zielsetzung so transparent wie die Lehrhefte der Deutschen Post. Bemerkenswert raffiniert ist etwa der Einsatz des größten deutschen Versicherungskonzerns für mehr „finanzielle Bildung“: Die Allianz hat dafür sogar eine eigene Stiftung mit dem Namen „My Finance Coach“ gegründet, unter Beteiligung der Unternehmensberatung McKinsey. Die Stoßrichtung der Materialien ist klar: Die „immer größere Eigenverantwortung, die Menschen in finanziellen Angelegenheiten übernehmen müssen“, soll eine individualisierte finanzielle Bildung unabdingbar erscheinen lassen.

Dass die „immer größere Eigenverantwortung“ jedoch nicht gott- oder naturgegeben ist, sondern Folge politischer Entscheidungen und ökonomischer Prozesse, wird ausgeklammert. Die politische Schlagseite macht derartiges Unterrichtsmaterial gefährlicher als explizite Werbebotschaften: Hier werden Weltbilder erzeugt und gefestigt. Früh sollen die Schüler lernen, dass gemeinschaftliche Probleme am besten individuell gelöst werden.

Eine dritte Form der Einflussnahme auf Schulen, die in Engartners Studie vielfach zu besichtigen ist, besteht in der Organisation von Veranstaltungen und Unterrichtsstunden für Schüler. Der Chemiekonzern BASF bietet die Möglichkeit, auf dem unternehmenseigenen Campus in „Kids’ Labs“ zu experimentieren, während der Automobilhersteller Daimler sein Personal in den naturwissenschaftlichen Unterricht schickt und sogar Lehrerfortbildungen anbietet.

Die Kaufkraft der Gymnasien

Die verschiedenartigen Engagements stellen – ökonomisch gesprochen – unterschiedlich zukunftslebige Investitionen dar. Einige Firmen werben vorrangig für sich und ihre Produkte, sie verfolgen damit eine eher kurzfristige Strategie. Besonders interessant sind für sie Gymnasien, da hier Haushalte mit höherer Kaufkraft vermutet werden. Dagegen setzen andere DAX-Konzerne mit längerem Atem auf Nachwuchsförderung oder gar, wie im Falle der Allianz, auf weltanschauliche Beeinflussung.

Engartner zufolge gehen die nur scheinbar auf Augenhöhe verorteten „Bildungspartnerschaften“ zulasten derjenigen Lobbygruppen, die nicht über die finanziellen Ressourcen börsennotierter Unternehmen verfügen: Wohlfahrts- und Umweltverbände, aber auch Gewerkschaften können in diesem Ideenwettstreit nicht mithalten. Stattdessen setzen sich in den Schulen die Darstellungen von Großunternehmen durch, die mithilfe der „selektiven, tendenziösen und manipulativen Unterrichtsmaterialien“ Verbreitung finden.

Für Engartner ist daher klar: Die Materialien der privaten Initiativen gehören länderübergreifend auf den Prüfstand, da sie „an den Grundfesten der Demokratie“ und am „Anspruch auf Aufklärung“ rütteln.

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