Baku war schon im Mittelalter ein Melting Pot unterschiedlicher Kulturen, Völker und Sprachen, bewusst unentschieden zwischen Asien und Europa. Auch meine Familie wanderte nach und nach in die aserbaidschanische Hauptstadt ein. Ihr russischer Teil floh vor den Hungersnöten im zaristischen Russland, der jüdische vor den Pogromen im Siedlungsrayon, meine Großmutter kam als letzte aus Weißrussland – sie floh vor dem Holocaust. Ich wurde in Baku geboren und bin dort aufgewachsen, in der sechsten Generation. Während der sowjetischen Ära war Baku die kosmopolitischste Stadt der UdSSR – Aserbaidschaner, Armenier, Russen und Juden. Die Lingua franca war Russisch; interkulturelle und interkonfessionelle Ehen waren erwünscht, und auch in meiner Familie mischten sich Russisch, Aserbaidschanisch, Jiddisch und Polnisch.
Baku ist heiß und windig und staubig. Die Innenstadt hat sich mit jeder Generation und jedem Regime gewandelt: Neue Gebäude werden hochgezogen und alte abgerissen, manchmal über Nacht. Wenn man die Stadt für ein paar Jahre verlässt, kann es passieren, dass man sie kaum wiedererkennt. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach dieser Stadt und ein paar beständige Inseln in der Kartografie:
Platz der Fontänen
Die Innenstadt sieht nach Zucker aus, sauber und glänzend. Über den engen Gassen hängen Lichtgirlanden, die Auslagen der überteuerten Geschäfte werden jeden Morgen gereinigt, danach widmen die gelangweilten Verkäuferinnen sich wieder dem Haarekämmen und der Maniküre. Das durchschnittliche Gehalt reicht ohnehin nicht für eine Handtasche.
Alles läuft auf den zentralen Platz der Fontänen zu. Dort plätschern im Sommer mehrere Springbrunnen, und die Kinder fahren Karussell, während die Erwachsenen Eis essen und flirten. Die Innenstadt ist übervoll, meist mit Gruppen von jungen Männern, die aussehen, als ob sie nichts zu tun hätten. Sie haken sich unter und schauen sich gemeinsam die Frauen an. Allerdings bleibt es meist beim Anstarren, für sexuelle Belästigungen gibt es gerechte Strafen, die sofort eingefordert werden.
Märtyrerallee
Die Märtyrerallee liegt hoch über der Stadt, neben einer neu erbauten Moschee und Hochhaustürmen, die entfernt an die Twin Towers erinnern, aber eigentlich Flammen darstellen sollen. Hier ist es meistens leer und still. Nur wenige Besucher wandern leise zwischen den Gräbern, und ab und an sind es streunende Hunde, die sich am ewigen Feuer wärmen. Der Ausblick auf die Bucht von Baku und die Ölfelder ist schön. Das einzig Schöne an diesem Ort. Denn hier liegen die Toten des Schwarzen Januars von 1990 begraben.
Am 15. Januar 1990 wurden russische Truppen um Baku zusammengezogen. Die Bevölkerung wurde unruhig, Straßensperren und Barrikaden wurden errichtet. Der Einmarsch sollte verhindert werden. Wenige Tage später sprengte eine Einheit des KGBs die Radio- und Fernsehstationen. Die Einwohner waren auf Krieg eingestellt. Panzer rollten durch die Innenstadt. Russische Scharfschützen feuerten auf unbewaffnete Menschen, Panzer rollten über die notdürftig errichteten Barrikaden, über Menschen und über eine Ambulanz. In dieser Nacht starben Hunderte. Am 23. Januar gab es eine Trauerkundgebung für die gefallenen Märtyrer, sie wurden hier, über der Stadt, begraben. Auf dem langen Gang befindet sich auch das gemeinsame Grab eines frisch verheiraten Paares, auf dem Grabstein ist ihr Hochzeitsfoto abgebildet, und gleich daneben sieht man das Bild eines 16-jährigen Mädchens, das im Wohnzimmer seiner Eltern ermordet wurde, weil es aus dem Fenster lugte. Es sind viele Gräber, voll mit aserbaidschanischen, russischen und jüdischen Namen. Manche Gräber sind namenlos geblieben. Wenig später begann man hier, die Toten aus den Kriegen um Bergkarabach zu begraben. Der Platz reichte nicht lange.
Florida
Das Politbüro der KP verfolgte zunächst den Plan, den südlichen Kaukasus ins „Florida“ der Sowjetunion zu verwandeln. Natürlich ist das gescheitert, dennoch war die Region stets eines der beliebtesten Urlaubsziele für die sowjetischen Bürger und war in der russischen Literatur seit der Klassik eine exotische Projektionsfläche.
Boulevard
Der Boulevard ist eine lange Flaniermeile am Ufer des Kaspischen Meeres, umrahmt von Jazzclubs und Restaurants, in denen Lamm und Stör an langen Spießen gegrillt werden. Sobald die Sonne sich nicht mehr in die Haut und die Kleidung brennt, gehen die Menschen auf die Straße, um zu spazieren, Schwarzmarkt-Geschäften nachzugehen oder zu plaudern. Vor ihnen schimmert gräulich das Meer, auf dem Wasser schwimmt bisweilen ein feiner Ölfilter.
Von hier aus fahren jede halbe Stunde zwei Ausflugsdampfer hinaus auf die offene See und drehen nach einer Viertelstunde wieder um. Die Route und selbst die Schiffe, auf denen auch ich weite Teile meine Kindheit verbracht habe, sind wahrscheinlich älter als die meisten Einwohner Bakus.
Jungfrauenturm
Der Jungfrauenturm ist das Wahrzeichen Bakus, er ist aus Kalkstein, plump und rund und steht in der südlichen Altstadt. Viele Legenden kreisen um ihn. Vor Jahrhunderten soll er noch vom Wasser umgeben gewesen sein – das Meer wäre demnach um gut 100 Meter zurückgegangen.
Die am weitesten verbreitete Legende handelt, wie es immer so ist, von einer Jungfrau. Als sie eines Tages heiraten sollte, bat sie ihren zukünftigen Mann, einen Turm zu bauen und mit der Trauung so lange zu warten, bis er fertig war. Als es so weit war, stürzte sie sich von diesem Turm ins Meer.
Seitdem nennt man diesen Turm „Jungfrauenturm“, und angehende Bräute legen dort Sträuße nieder. Als Mädchen träumte ich ebenfalls davon, Blumen hierher zu bringen. In die Ehe sollte eine Frau unbedingt jungfräulich gehen, das ist zumindest gesellschaftlicher Konsens. Bei der Hochzeit wird um ihr weißes Kleid ein rotes Band umgebunden, das ihre Jungfräulichkeit signalisieren soll.
Herrschaft
Das Alijew-Regime hat sich in das Stadtbild eingeschrieben. Die Gesichter der Präsidentenfamilie Alijew sieht man überall, ihre überdimensionalen Porträts (Vater und Sohn, Vater im Smoking, der Sohn alleine oder mit Ehefrau, der liebevolle Großvater mit seinen Enkeln) hängen überall, und wenn mal kein Foto eines Alijews in der Nähe ist, dann steht man mit Sicherheit gerade in einer Straße oder einem Gebäude, die oder das nach ihnen benannt wurde oder ihnen gehört.
Peripherie
Armut.
Bazar
Auf dem Bazar, auf dem man handeln muss, bekommt man fast alles, mehr oder weniger legal: Gackernde Hühner werden da neben frischem Brot angeboten, es gibt Berge von Wassermelonen, Kaviar und früher auch die eine oder andere Waffe. Den Bazar wird kein Supermarkt je verdrängen, in den vergangenen Jahren wurden jedoch deutsche Bäckereien und deutsche Apotheken populär. Besonders die Wortkombination „deutsch“ und „Apotheke“ wirkt auf zahlungsstarke Kranke sehr beruhigend. Sämtliche dort zum Verkauf stehenden Medikamente kommen tatsächlich von hier, aber das Personal ist nicht mal in der Lage, die Beipackzettel zu lesen.
Tee
Ohne Tee geht gar nichts. Es ist das Nationalgetränk in Aserbaidschan und wird überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit getrunken. Am liebsten in einer Cayhana (Teehaus), die auf dem Land oft von Männern frequentiert wird und in denen die Getränke in Kannen und der Würfelzucker kiloweise serviert werden. In der Cayhana wird stundenlang Backgammon gespielt und über Politik geredet. Zumindest in Baku erobern die Frauen sich langsam diese Räume.
Den Tee macht vor allem seine Zubereitung aus: Zunächst wird der Kessel mit heißem Wasser erwärmt und erst dann mit Teeblättern und warmem Wasser gefüllt. Da in Aserbaidschan vor allem Gasherde verbreitet sind, wird die offene Flamme mit einem Metallring abgedeckt und der Teekessel auf diesen gesetzt. Der Tee darf nicht aufkochen, sonst gilt er als verdorben. Sobald die Teeblätter aufgestiegen sind, sollte der Schwarzteeaufguss abgegossen werden und kurz vorm Servieren mit sprudelnd kochendem Wasser nach Geschmack verdünnt werden. Getrunken wird der Tee aus kleinen Gläsern, die Armudi heißen. Ihre spezielle Form – unten sind sie breit, zur Mitte werden sie schmal, die Spitze ist wieder breit – hält den Tee länger warm. Tee und Zucker sind nur die Notration, gereicht wird er mit Zitrone und Marmelade, für die ganze Früchte eingekocht werden – etwa Wassermelonenschalen oder weiße Kirschen im Sirup, Rosengelee und vor allem Gelee aus den noch grünen Walnüssen. Allerdings: Milch zum Tee ist ein kulturelles Tabu.
Ziguli
Autos. Werden von reichen Sprösslingen gekauft und auf möglichst spektakuläre Art in der Innenstadt zu Schrott gefahren.
Gäste
Der Stellenwert des Essens kann gar nicht größer sein. Essen ist die Staatsreligion. Sobald sich Gäste ankündigten, roch unser Haus nach Plow, Dolma und Pahlawa. Man sitzt stunden- und manchmal auch tagelang zusammen am Tisch, begleitet von unzähligen Gängen und Trinksprüchen. Gastfreundschaft ist eine angenehme Pflicht, und den Gast hungrig nach Hause gehen zu lassen, ist eine Sünde. Die aserbaidschanische Küche wurde von zahlreichen kulturellen Einflüssen aus Armenien, Georgien, Türkei, Iran, Russland et cetera geprägt.
Die Küche meiner Mutter ist zwar eine Mischung aus kaukasischen, russischen und jüdischen Gerichten, doch am liebsten kocht sie die aserbaidschanischen. Es sind Rezepte, die von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, und selbst in Israel, wohin meine Tanten gezogen sind, werden noch immer dieselben Gerichte wie in Baku serviert, leicht israelisch verändert.
Öl
Die beliebtesten Handelsgüter in Baku sind das Erdöl und der Klatsch, und man geht davon aus, dass beides nie versiegen wird.
Das Erdöl brachte den Reichtum nach Baku: 1872 begann die Ölförderung, und Baku boomte. Die ersten Ölbarone, unter ihnen auch die Brüder Nobel, bauten spektakuläre Paläste in der Innenstadt, während die Arbeiter unter den erbärmlichsten Bedingungen an den Rändern der Ölfelder hausten.
Der Schriftsteller Essad Bey alias Lev Nussibaum beschrieb 1930 in seinen Memoiren Öl und Blut im Orient die Lage: „Die Öltürme am Kaspischen Meer bilden einen Staat für sich, der besonderen Gesetzen unterstellt ist und eine besondere Auffassung von Gerechtigkeit hat. Die Gesetze der Ölfelder sind ungeschrieben, werden aber mehr geachtet als die geschriebenen Gesetze des Staates. Der oberste Herr der Türme ist der Ingenieur, der Macht über Leben und Tod seiner Untergebenen hat. Nur wenige können Ingenieur auf den Ölfeldern werden, dazu muss man geboren sein.“
Es hat sich, was das angeht, nicht viel verändert. Der Reichtum, ungleich verteilt, kehrte in den späten Neunzigern wieder nach Baku zurück. Glitzernde Hochhaustürme und Markenshops wurden gebaut, die Straßen von dunklen Jeeps übernommen.
Olga Grjasnowa wurde 1984 in Baku geboren und lebt seit 1996 in Deutschland. Sie studierte Kunstgeschichte in Göttingen und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Immer wieder hat sie längere Zeit in Polen, Russland und Israel verbracht. Im Frühjahr erschien ihr hochgelobtes Romandebüt Der Russe ist einer, der Birken liebt im Münchner Hanser Verlag
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