Im Wahlkampf zeigen sich nun die Folgen all der nationalen Mythen, die bei der Trauer über die Opfer des Flugzeugabsturzes bei Smolensk in Polen wieder belebt wurden. Trotz aller Spezifik kann man dies als Lehrstück für Phänomene begreifen, wie sie im Verhältnis zwischen aktueller Politik und Geschichte oft auftauchen.
Nur wenige Tage nach Bekanntgabe der Kandidatur Jarosław Kaczyńskis für das Präsidentenamt sagte ihm die Gewerkschaft Solidarność ihre volle Unterstützung zu. „Es war keinesfalls eine personelle oder politische Entscheidung“, so ihr Vorsitzender Janusz Śniadek, sie sei im Gegenteil rein „programmatisch“ ausgefallen.
Nicht nur mit dem Begriff des Politischen scheint hier etwas nicht zu stimmen. Solidarność, die als größte und symbolträchtigste Gewerkschaft Polens seit ihrer Entstehung 1980 immer auch eine liberale Freiheitsbewegung war, stellt sich an die Seite des Gründers und Kopfes der seit 1989 mächtigsten konservativen Formation des Landes, der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS). Dabei scheinen alle Unterscheidungen zwischen sozial, liberal und konservativ, liberal und national, demokratisch und dogmatisch, links und rechts ins Wanken geraten. Denn Jarosław Kaczyński wird in der gerade begonnenen Wahlkampagne immer mehr zu einem nationalen Symbol für eine umfassende, vorher noch nie existierende Einheit und Solidarität Polens stilisiert. Er – und nur er allein – soll in der Lage sein, alle Gegensätze in sich zu vereinen, um einer größeren Sache – dem Polentum – zu dienen. Er erscheint wie die Inkarnation seines gerade heldenhaft verunglückten Zwillingsbruders, der seit dem 18. April auf dem Nationalheiligtum Wawel ruht und dies sozusagen zum Ausgleich dafür tut, dass dem letzten, 1798 in russischer Gefangenschaft gestorbenen, König von Polen diese Ehre versagt blieb.
Politik ist dreckig
Das macht Kaczyński zum Inbegriff eines idealen polnischen Präsidenten. In seiner Person scheint das neue Polen endlich an die 1795, nach der dritten Teilung, unterbrochene Geschichte anknüpfen und so seine bislang schmerzlich vermisste nationale Identität wieder gewinnen zu können. Darin vereint er die Polen aller Parteien nun ganz unpolitisch, ja gegen alle Politik.
Denn eines muss man wissen: Die Politik ist in Polen verpönt. Sie gilt seit jeher als dreckige und unmoralische Angelegenheit. Wahre Autoritäten sind unpolitisch. Sie streiten nicht mit Argumenten, sie sprechen im Namen höherer Werte. Dieses vermeintlich Unpolitische ist das „programmatisch“ einzig Richtige, Wahre und Reine. Vor allem aber soll es uns Polen nun zu uns selbst führen und eine Neubestimmung der – eigentlich erst nach dem Flugzeugunglück von Katyn und nicht bereits 1989 – wiedererstandenen Nation ermöglichen.
Davon abgesehen ist das Geschehen in der Sphäre der Politik tatsächlich selten gut ausgegangen für Polen. Es begann vor 300 Jahren, als man innerhalb kurzer Zeit von einer europäischen Großmacht zu einem unterdrückten Volk herabsank. Im 18. Jahrhundert wurde Polen zunächst geteilt, im 19. Jahrhundert ganz getilgt und im 20. Jahrhundert lange durch Kriege, Morde und die kommunistische Ideologie geschwächt und niedergehalten.
Seit Polen 1989/90 wieder ein souveräner Nationalstaat wurde, und es wieder freie demokratische Wahlen gibt, hat die Politik daraus leider nur eine Konsequenz gezogen. Es geht in der öffentlichen politischen Debatte fast ausschließlich um die Abrechnung mit der Zeit des Sozialismus. Diese Auseinandersetzung kennt keine andere Form als das Argumentieren ad personam. Das ist dann auch der eigentliche Hintergrund für jenen eigentümlich heftigen und verletzenden Stil eines politischen Streits, von dem man im Ausland immer nur sehr vage bleibende Beschreibungen liest. Vor allem die Programme der konservativen Parteien besagen seit 1989 im Grunde immer nur eines: Bevor ein neues Polen aufgebaut werden kann, muss die persönliche Rolle jedes Einzelnen unter dem Sozialismus durchleuchtet werden. „Lustration“ nannte man den erst unter der jetzigen Regierung von Donald Tusk wieder gestoppten Vorgang einer lückenlosen Befragung. Man kreierte die Metapher von der absolut gereinigten IV. Republik – die eben erst danach ins Leben treten könne. Die Linken und Liberalen entschieden sich daraufhin jedes Mal wieder, die Anwürfe der Konservativen nur abzuwehren.
Polens Land kämpft seither nicht nur ununterbrochen vergangene Schlachten. Man hat auch nicht einmal im Ansatz damit begonnen, über die verschiedenen Möglichkeiten zu streiten, die bisherige Geschichte Polens zu deuten und Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Dabei gäbe es hier eine Reihe diskusisionswürdiger Ansatzpunkte. Da wäre etwa jene erste „Adelsrepublik“ in Europa, die im 16. Jahrhundert in Polen entstand, deren zentrales Verfassungsprinzip lautete: Nihil novi nisi commune consensus (Nichts Neues ohne gemeinsamen Konsens). Dieses Prinzip hatte damals freilich maßgeblichen Anteil am letztlichen Scheitern dieser Republik. Für eine Aktualisierung empfehlen würde sich darum wohl eher eine Traditionslinie wie sie der polnische Nationalheld Tadeusz Kościuszko verkörpert. Er kämpfte ebenso sehr für die polnische Nation wie an der Seite von Thomas Jefferson für die amerikanische Revolution, womit man sich in Polen jedoch kaum beschäftigt hat. Sein auf Englisch verfasstes programmatisch-liberales Testament kennt so gut wie niemand. Von den relativ großen wirtschaftlichen Erfolgen seit 1989/90 geblendet, hat man die Frage nach sinnvollen ideellen Grundlagen für die neue Republik nach der Wende auch außerhalb der Politik erst einmal zurückgestellt – dies könnte sich nun endgültig als fatal erweisen.
Respekt und Pietät
In dieses Vakuum nämlich stieß am 10. April mit aller Wucht die nationale Trauer um die Opfer des Flugzeugabsturzes bei Katyn. Und dies schuf eine Gelegenheit, eine einige Republik Polen auf etwas ganz anderes zu gründen. Die Trauer-Woche hat alle Symbole und Mythen aktualisiert, die von Jaroslaw Kaczyński im Wahlkampf für einen programmatisch vereinseitigten Umgang mit der polnischen Geschichte genutzt werden. Er baut ganz auf den Respekt und die Pietät, die historische Mythen vom Sinn der vielen Opfer Polens fordern, sowie auf die Verknüpfung seines Namens mit Katyn. Die Auseinandersetzung mit den demokratischen Traditionen Polens aber wird so auf noch einmal ganz neue Weise aufschiebbar – sie erscheint sogar endgültig überflüssig.
Eine Mehrheit in Polen könnte am 20. Juni für Jaroslaw Kaczyński stimmen, obwohl sie sich eigentlich längst etwas ganz anderes wünscht als ein katholisch-konservatives Land, dem er erneut Geltung verschaffen wird. Wenn es darum geht, ein Zeichen für ein einiges Polen zu setzen, will eben niemand zurückstehen. In diesem Punkt sind die nationalen Traditionen und Mythen noch übermächtig. Das hat niemand so gut begriffen wie Jarosław Kaczyński.
Olga Lewicka ist Künstlerin und derzeit Stipendiatin des Młoda Polska-Programms des polnischen Ministeriums für Kultur und Nationales Erbe
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