Im Moskauer Stadtzentrum hängt seit wenigen Tagen ein Plakat des Verteidigungsministeriums. Zu sehen ist ein junger Soldat in Tarnfleck und Helm, der an einer Felsenküste steht. „Wir verteidigen den Frieden“, lautet der Slogan dazu. Gerade wirkt das, als wolle die Regierung schon mal aufs Äußerste vorbereiten. Russische Soldaten haben vor wenigen Tagen auf der ukrainischen Halbinsel Krim die Kontrolle übernommen. Auch für sie gilt aus Moskauer Lesart: Sie schützen den Frieden, also die russischsprachige Bevölkerung dort. Tatsächlich aber geht von ihnen die Angst vor einem Krieg in Europa aus.
Russische Soldaten im Einsatz auf der Krim? Präsident Wladimir Putin will davon nichts wissen. Um „Kräfte der Selbstverteidigung
rteidigung“ soll es sich stattdessen handeln. Russische Uniformen, erklärte der Präsident, könne man ja an jeder Ecke kaufen. Dass den Menschen auf der Krim längst klar ist, mit wem sie es zu tun haben, dass sie die russischen Nummernschilder an schweren Militärfahrzeugen erkannt haben, spielt für Wladimir Putin offenbar keine große Rolle. Sogenannte lokale Kräfte also. Vor einigen Tagen soll Kanzlerin Angela Merkel nach einem Telefonat nicht mehr sicher gewesen sein, ob Putin noch Bezug zur Realität habe. Der russische Präsident, soll Merkel gesagt haben, lebe „in einer anderen Welt“.Nach tagelangem Schweigen erklärte Putin nun seine Sicht zur Krim-Krise. Zwei Dutzend ausgewählte Journalisten lud er in seine Residenz Nowo-Orgajowo vor den Toren Moskaus. Er saß dabei, die Beine breit, den Oberkörper auf die Stuhllehne gestützt, nur wenige Schritte von den Reportern entfernt und sagte, er sei besorgt über die „Nationalisten und Antisemiten“ in der Ukraine. Für Russlands Staatsoberhaupt sind die Revolutionäre vom Maidan keine Kämpfer für Freiheit und Demokratie. Aus seiner Sicht haben Faschisten die Macht an sich gerissen. Der Westen haben sie dabei unterstützt. Der „verfassungswidrige Umsturz“ sei lange vorbereitet worden.Für eine Entsendung von Truppen, sagte Putin weiter, gebe es keine Notwendigkeit. Ebenso wenig gebe es Pläne für eine Annexion der Krim. Er betonte das Recht auf Selbstbestimmung, das den Menschen auf der Krim zustehe. Dabei behält sich der Präsident alle Mittel zum Schutz der Russen in der Ukraine vor: „Wir werden nicht zusehen, wenn sie verfolgt und vernichtet werden.“Lilija Schewzowa vom Moskauer Thinktank Carnegie Center nannte diesen Auftritt „ein Beispiel kognitiver Dissonanz“. Ihr Fazit lautet: „Putin hat nichts ausgeschlossen und lässt alle in der Luft hängen.“ Alexej Makarkin vom Zentrum für politische Technologien glaubt, dass Russland „nicht beginnen wird, den Einsatz in der Ukraine auszuweiten.“ Vielleicht, sagte er der Zeitung www.gazeta.ru, habe das Gespräch mit Angela Merkel eine Wirkung gezeigt.Putin reizt und beschwichtigtAuch Gleb Pawlowskij, Leiter der Stiftung für effektive Politik, glaubt nicht, dass Putin die Streitkräfte einsetzen wird. Pawlowskij war als Berater eng mit dem Kreml verbunden, heute zählt er zu dessen Kritikern. Die Aussicht auf einen möglichen Krieg sei konstruiert, Putin habe eine Drohkulisse geschaffen. Es gibt aber auch Stimmen im Land, etwa die von Andrej Subkow, einem Philosophieprofessor der Eliteuniversität MGIMO, der das Land am Rande eines Krieges sieht und den Einsatz mit der Annektierung Österreichs unter Hitler verglich.Moskau reizt und beschwichtigt. Niemand wolle einen Krieg, erklärte der stellvertretende Außenminister Grigorij Karasin zu Beginn der Woche. Am Ende könnte Putin auch ohne Waffengewalt die Krim kontrollieren. Auf den dortigen Einfluss, womöglich auch auf weitere Teile der Ukraine, wird er nicht verzichten. Zu wichtig ist der Nachbarstaat für seine Pläne einer Eurasischen Union. Zu wichtig ist das Brudervolk für das Selbstverständnis vieler Russen, zu eng verflochten sind beide Staaten miteinander, die einst aus der Kiewer Rus hervorgegangen sind.Der Umgang mit der Krim spaltet derweil die russische Bevölkerung. So gingen am vergangenen Wochenende, nachdem das Parlament einen Militäreinsatz gebilligt hatte, die Menschen in Moskau auf die Straße. Auf dem Maneschnaja-Platz vor dem Kreml kamen nur wenige Hundert zusammen, aber am Puschkin-Platz, knapp einen Kilometer entfernt, versammeltem sich einige Tausend, die dann aber für Putins Politik demonstrierten. Um die Menschen auf der Krim zu unterstützen. Die Polizei will dort mehr als 20.000 Menschen gezählt haben. Allerdings waren offenbar nicht alle freiwillig erschienen, von Bezahlungen war die Rede.Die Krim ist für viele hier ein sensibles Thema, man spürt die starke emotionale Bindung. Die Mehrheit meint wirklich, dass die Halbinsel zu Russland gehört. Verantwortlich dafür ist die bewegte Geschichte einerseits, persönliche Erfahrungen andererseits. Im 18. Jahrhundert annektierte Russland die strategisch gut gelegene Halbinsel im Schwarzen Meer. Im Zweiten Weltkrieg war Sewastopol hart umkämpft. Heute wird die Stadt, in der die russische Schwarzmeerflotte vor Anker liegt, als Heldenstadt verehrt. In der Sowjetunion war die Krim ein Ferienparadies, noch heute reisen viele Russen dorthin. All das prägt das Bewusstsein von einer russischen Krim. Daran hat auch Nikita Chruschtschow, selbst Ukrainer, wenig geändert. Im Jahr 1954 sprach er die ehemalige sozialistische Kurzone Krim aus dem Verwaltungsbereich der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu. Heute leben gut 60 Prozent Russen auf der Krim.Für viele ist das, was gerade stattfindet, deshalb keine Invasion, sondern eine Unterstützung für das „Brudervolk“. Putin kann mit seinem Vorgehen bei den patriotischen Russen punkten. Durch die Olympischen Spiele in Sotschi und nach der Revolution in Kiew ist die Zustimmung zu seiner Politik deutlich gewachsen. Sie ist inzwischen so hoch wie seit fast zwei Jahren nicht mehr.Es kommt in der Bevölkerung traditionell gut an, wenn der Präsident Stärke demonstriert. Nicht nur jener Putin, der den Untergang der Sowjetunion als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ betrachtet, denkt noch in den Schemata des Kalten Krieges. Viele Bürger meinen, dass vom Westen, insbesondere der NATO, nach wie vor eine Bedrohung ausgehen würde. Vorbehalte dieser Art ziehen sich durch alle Schichten. Zumal der Westen seine Zusagen nicht hielt und die NATO bis an Russlands Grenzen erweiterte.Ausgeglichene UmfragenExperten glauben deshalb, dass die Unterstützung der Bürger für das Vorgehen groß ist. Zumal die Mehrheit auch glaubt, dass Faschisten in Kiew die Macht an sich gerissen hätten. Ein verlässliches Meinungsbild darüber, was sie genau denken, gibt es aber noch nicht. Die Tageszeitung Nowyje Iswestija hat ihre Leser im Internet befragt, ob sie bereit wären, die russische Bevölkerung auf der Krim mit Waffengewalt zu verteidigen. Bei den Antworten hielten sich Pro und Contra die Waage. Repräsentativ war die Umfrage ohnehin nicht. Die letzten Meinungsumfragen liegen einige Tage zurück, sie stammen also noch aus jener Zeit, bevor Moskau Soldaten auf die Krim schickte: 73 Prozent sagten dem kreml-freundlichen Forschungsinstitut WZIOM zufolge, Russland solle sich nicht in den inneren Machtkampf in der Ukraine einmischen.Sollte es dennoch zu einem Krieg kommen, sieht der Politikwissenschaftler Gleb Pawlowskij ein Problem für Putin im eigenen Land, schließlich stünden sich dann zwei verwandte Völker gegenüber. Er rechnet mit einer Kluft zwischen Staatsgewalt und Volk, vor allem der Mittelschicht, „die nicht für diesen Krieg bezahlen oder gar selbst ins Feld ziehen will.“
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