Frankreich: Der Pariser Rentenstreit wird zur Krise eines Regimes
Rentenreform Kommt die Nationalversammlung nach 50 Tagen zu keinem Beschluss, kann der Élysée-Palast per Dekret entscheiden oder per Präsidentenvollmacht. So oder so, die rechtsextreme Marine Le Pen würde davon profitieren
So sehen also „Champagner-Linke, die Arbeit scheuen und das Chaos planen“ aus
Foto: picture alliance/ Hans Lucas Xose Bouzas
Er hatte auf Zermürbung gesetzt und auf den Streit der Gewerkschaften. Wieder einmal hat Emmanuel Macron seine Untertanen schwer unterschätzt. Am siebten Februar zeigten die acht großen Gewerkschaftsverbände, die politisch vieles trennt, dass der gemeinsame Protest in den zwei Wochen bisher kein Strohfeuer war. Mehr als zwei Millionen Französinnen und Franzosen marschierten gegen die Rentenreform (die Gewerkschaften meldeten drei Millionen). In Paris mussten sie sich, weil die Boulevards nicht genügend Platz boten, in mehrere Züge von vielen Kilometern Länge teilen. In Marseille machten die Docker den Hafen dicht, zogen gelbe Westen über und setzten sich an die Spitze von Zehntausenden zornigen Raffinerie-Arbeitern, Ärzten und Pflegenden, E
, Eisenbahnern, öffentlich Bediensteten, Leuten vom Bau, Verkäuferinnen, Lehrern, Schülerinnen.„Nun etwas Zärtlichkeit“Nervöser aber machten Macrons Strategen Meldungen aus der Provinz vom 31. Januar: In mehr als 220 Kleinstädten kam es zu Streiks und Protesten. Zum Beispiel in Annonay (Rhônetal) – in diesem 16.000-Seelen-Ort gab es 8.000 Demonstranten. Macrons derzeitiger Arbeitsminister Olivier Dussopt hat dort als „sozialistischer“ Bürgermeister seine politische Karriere begonnen. Nun soll er Macrons Rentenvorlage im Parlament durchboxen. „Verräter!“, beschimpften frühere Wähler den Mann, der „unbedingt Minister sein wollte“.Auffallend war, wie viele Familien, Protestneulinge und Weißkragen sich trotz des martialischen Aufgebots von „Robocops“ auf die Straße wagten. Wie üblich wehten die Banner der Gewerkschaften. Doch improvisierte, oft kreative Kleinplakate in großer Zahl zeugten von einer Basis, die ihre Organisationen vor sich hertreibt. In Marseille etwa war zu lesen: „Du zwingst uns zu 64. Wir geben dir 68!“ – im Blick auf den Mai 1968. Da ergreifen jene das Wort, „die nichts sind“, wie Präsident Macron sie nennt. Jene, die man in den Medien gewöhnlich nicht hört, weil fast sämtliche großen Blätter und Sender Macrons Milliardärsfreunden gehören: die Bewohner der „Agglos“, der Vorstädte und des flachen Landes. „Das reale Frankreich gegen das Frankreich der Excel-Tabellen“, twitterte der linksgrüne Abgeordnete François Ruffin.Aus Anlass der Renten werden jetzt gerade sechs Jahre macronistischer Zumutungen saldiert. Sie sind geprägt von systematischer Gefährdung sozialer Sicherheit und der öffentlichen Dienste, vom Dauerangriff auf die Löhne, von der Sezession der Eliten und der Umwandlung des Staates in eine Selbstbedienungskasse des Kapitals. Allein 2021 summierten sich die Zuwendungen an Unternehmen auf 207 Milliarden Euro. Im Grunde wissen die Franzosen, dass die Verteilung des produzierten Werts der Schlüssel ist, denn steigen die Löhne und die Lohnquote, ist auch die Rente sicher. Macron jedoch will die Löhne dauerhaft drücken.Führende Macronisten räumen inzwischen ein, den Kampf um die Köpfe verloren zu haben. Eigentlich wollten sie den Rentenabriss mit dem Storytelling „Gleichgewicht, Gerechtigkeit, Fortschritt“ unkenntlich machen. Kaum jemand nahm ihnen das ab. Dann entlarvten Ökonomen, Rentenspezialisten und Sozialforscher Macrons Plan als ökonomisch unnötig, brutal für Frauen und niedrige Einkommen – als heimliche Privatisierung der Altersvorsorge. Mit jeder verweigerten Debatte, jeder manipulierten Zahl, jeder Provokation der Regierung („Champagner-Linke, die Arbeit scheuen und das Chaos planen“) wächst der Groll.Für Überzeugungsarbeit sei die Zeit abgelaufen, quittiert der Präsident die Proteste. Er hat Regierungschefin Élisabeth Borne angewiesen, den Rentenabbau unverzüglich in Kraft zu setzen, notfalls mit der Brechstange. „Es geht um meine Autorität“, findet er. In den Diskursforen ist vom „sozialen Krieg“ die Rede. Was als Streit um Renten anfing, wurde zur Regime-Krise. In der Macron bereits als Verlierer feststeht, selbst wenn er die Reform erzwingt. Seit Wochenanfang wird im Parlament über sie beraten. Borne braucht 289 Stimmen, sie hat lediglich 249, und auch das nur, wenn die gesamte Präsidentenkoalition zustimmt. In letzter Minute machte die Premierministerin daher neue Konzessionen in Richtung der Rechtskonservativen. Deren Parteichef, der ultrarechte Éric Ciotti, hatte Macron zwar volle Unterstützung zugesagt, doch rund 30 Republikaner wollen ausscheren. Sie nannten Bornes marginale Abstriche „würdelose Täuschungsmanöver“. Das Renteneintrittsalter von 64 steht ohnehin nicht zur Diskussion.Wird es eng, will Macron den Notstandsartikel 49.3 zücken, das Parlament wäre ausgeschaltet, dann zum elften Mal, seit Macron regiert. Andere Möglichkeit: Die beiden Kammern kommen in 50 Tagen zu keinem Beschluss, dann könnte der Élysée die Reform per Dekret erlassen. Beides würde die dürftige Legitimität dieser Präsidentschaft endgültig begraben und Macron als besten Wahlkampfmanager von Marine Le Pen in die Geschichte eingehen lassen.Verhindern können das wohl nur die Gewerkschaften, zusammen mit der links-ökologischen Koalition Nupes. Die Allianz hat ein Referendum gefordert, Macron schlug es aus. Nun will die Linke die Parlamentsdebatte ganz auf das Rentenalter und die Lohnfrage lenken. Mit 13.000 Änderungsanträgen hofft sie, die Debatte zu steuern. Reicht das? Nein, sagt Nupes-Mann François Ruffin: „Es braucht den anhaltenden und wachsenden Druck der Straße.“ Und dann fügt er einen überraschenden Satz hinzu: Der wichtigste Kampf gelte der Zermürbung und Resignation: „Nach all der macronistischen Brutalität – gebraucht wird nun etwas Zärtlichkeit.“ Für den elften Februar ist der nächste Aktionstag anberaumt. Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux rief die Franzosen auf, stolz „das Haupt zu erheben“.