Reform Der Präsident tritt erneut mit einem Projekt an, das Konfliktpotential birgt: Diesmal will er ein höheres Renteneintrittsalter unbedingt durchsetzen. Eine Reform, die zum entscheidenden Kampf gegen Gewerkschaften und Linke werden könnte
Emmanuel Macron hofft, 2023 werde es seinen „Thatcher-Moment“ geben. Das Wort steht für eine Schlacht, mit der einst ein neoliberales Regime den Widerstand der Arbeiterschaft entscheidend gebrochen hat. 1984/85 hatte die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher den Streik der Bergarbeiter derart unterdrückt, dass die Gewerkschaften in existenzielle Nöte gerieten und die Labour Party sich selbst neoliberal sabotierte.
Frankreichs Staatschef sucht die Entscheidung zu seinen Gunsten – auch auf die Gefahr hin, dass er damit das Land in eine solche Rentenrage versetzt, die einem Ausnahmezustand nahekommt. Derzeit wirkt das Gesundheitswesen ziemlich ramponiert – das Bildungssystem, die Justiz und andere öffentliche Dienste brechen weg. Inf
n weg. Inflation und Sozialabbau machen das Leben schwer. In den Rapporten des Inlandsgeheimdienstes RG liest Macron mittlerweile regelmäßig von wachsender sozialer Unrast. Sogar die „Gelbwesten“ meldeten sich im Januar zurück, vorerst freilich noch mit geringem Zulauf.Demokratie auf Off geschaltetDabei ist Macrons Neoliberalismus durchaus autoritärer Natur. Seit den Wahlen im Frühjahr 2022 hat er elf große Gesetzesnovellen am Parlament vorbei erzwungen. Frankreichs Demokratie ist auf Off geschaltet. Für die große Auseinandersetzung, die jeden Widerstand definitiv aushebeln soll, hat sich der Präsident ein Thema ausgesucht, von dem er weiß, dass Gewerkschaften und Linke den Kampf annehmen müssen: seine Rentenagenda. Eine Reform möchte man die Vorlage eigentlich nicht nennen, sie verschlechtert die Parameter, sprich: die Bedingungen für Rentnerinnen und Rentner. Am 10. Januar verkündete Regierungschefin Élisabeth Borne die Eckdaten: Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre. Die ganze Rente bekommt nur, wer zuvor 43 Jahre lang Beiträge für die entsprechende Versicherung gezahlt hat. Wer zum Beispiel mit 25 ins Berufsleben eingestiegen ist, kann ohne Einbußen erst mit 68 in Rente.Dumm nur, dass bei einem Rentenalter von 64 mehr als 30 Prozent der Männer mit geringem Einkommen, die Anspruch auf Rente hätten, schon tot sind. Verhängnisvoll zudem, dass die größten Verlierer die unteren Mittelschichten sind, die als Wähler dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) zuneigen.Es gehe darum, das Rentensystem zu retten, behauptet Macrons Entourage. Es scheint ihr einziges Argument zu sein. Doch das Spiel mit der Angst vor einem nicht mehr zahlungsfähigen System verfängt nicht. Die Pensionskassen sind nach Angaben des offiziellen „Orientierungsrates Renten“ (COR) nicht über Gebühr entkräftet. Selbst ein Defizit von zwölf Milliarden Euro, das für 2027 erwartet wird, wie die Macronisten warnen, wäre durch Reserven gedeckt. Und trotz einer fortschreitenden Überalterung der Gesellschaft nimmt die Belastung durch die Renten, ausgedrückt in Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), langfristig ab. Überdies gäbe es zahlreiche Möglichkeiten, künftige Defizite zu vermeiden, etwa durch einen angehobenen Mindestlohn, durch die überfällige Durchsetzung eines gleichen Lohnniveaus bei Frauen wie Männern und das Eindämmen prekärer Jobs.Mindestens zwei Drittel der Bevölkerung lehnen die Renteninventur bisher ab. Eine Studie des Instituts Montaigne, das für den Arbeitgeberverband (Medef) arbeitet, veranschlagt den Anteil jener, die sich gegen eine höheres Renteneintrittsalter wenden, gar auf um die 90 Prozent. Er wisse es besser, teilt Macron mit. Ihm bleibe nicht verborgen, was die Franzosen wollen. Deshalb könne es nur von Vorteil sein, dass die Reform so schnell wie möglich Gesetzeskraft erlange, wenn es Ende des Monats die erste Lesung in der Nationalversammlung gebe. Findet das Projekt dort keine Mehrheit, weil die rechtskonservativen Les Républicains (LR) letzten Endes nicht mitspielen, bleibt Emmanuel Macron die Hintertür des Notstandsparagrafen 49.3. Ein Spiel mit dem Feuer, denn die Gewerkschaften und Linksparteien kennen ihren „Thatcher-Moment“: Verlieren sie diesen Konflikt, sind sie politisch schwer angeschlagen, wenn nicht tot. Straßenprotest allein wird nicht genügen. Schon gegen die Revision der Arbeitsgesetze, die Abschaffung des Eisenbahner-Statuts, gegen das Einschmelzen des Arbeitslosengeldes und andere macronistische Zumutungen haben sie mobilisiert. Massiv, aber erfolglos. Macron hatte Muße und Macht, die Herausforderung auszusitzen.Nun aber warnen ihn acht repräsentative Gewerkschaften in einem gemeinsamen Kommuniqué. Eine solche Einheitsfront gab es seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Macrons Hoffnung hat sich zerschlagen, die große sozialliberale CFDT aus dem Verbund zu lösen. Mehrmals schon ist ihm das in den zurückliegenden Jahren gelungen, jetzt allerdings kam von CFDT-Chef Laurent Berger ein klares Nein: Zu viel sei zu viel.Für den 19. Januar hat eine Koalition der Standhaften aus 250 kleinen und großen Gewerkschaften den ersten Streik angekündigt. Weitere Termine sind bereits gesetzt. Eine Eisenbahnerin von SUD Rail verspricht: „Wir werden mit einem Erdbeben beginnen und uns dann langsam steigern.“ Niemand redet gegenwärtig gern über Strategien, aber dass sich alle auf einen sehr harten Konflikt einstellen, ist erkennbar. Man hört: „Nur wenn wir das Land wenigstens in Teilen lahmlegen, die Bahn, die Tankstellen, den Transport über die Straße, und dies für längere Zeit, kann Macron diesen Widerstand nicht mehr ignorieren.“ Starke Basisgruppen planen gar einen Generalstreik. Ein CGT-Mann: „Macron sucht den Clash. Es geht um Sein oder Nichtsein.“Auch die linksökologische Koalition Nupes greift in das Ringen ein. Als Zusammenschluss die stärkste politische Kraft Frankreichs, wird die Rentenfrage für sie zur Nagelprobe, auch weil der Parti Socialiste (PS) mit seinen neoliberalen Neigungen ringt und die Grünen Mühe haben, sich für das Thema zu erwärmen. Ein prominentes Mitglied von La France insoumise (FI): „Kann gut sein, dass Macron uns rettet. Es wäre doch ein Verbrechen an unserer Geschichte, diesen Präsidenten nicht gemeinsam in die Schranken zu weisen.“Schock- und GasgranatenInzwischen flackert auch im Élysée eine gewisse Nervosität. Ein Berater meinte, man beobachte die Stimmung „wie die Milch auf dem Herd“. Innenminister Gérald Darmanin hat vorgesorgt und für mehr als 30.000 Polizisten zehn Millionen Schock- und Gasgranaten geordert. Das sieht nach Vorkehrungen für Straßenkämpfe aus, wie es die zuletzt Ende 2018 mit den „Gelbwesten“ wegen der Energiepreise gab.
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