Emmanuel Macron hat ein Debakel erlitten, doch den Systembruch verhindert

Frankreich Für Präsident Emmanuel Macron war die Parlamentswahl ein Desaster. Was bedeutet das für Frankreich? Lebendigere Demokratie – oder eine immer autoritärere Politik?
Ausgabe 25/2022
Sieht man auch nicht alle Tage: glückliche Linke. Die Mitglieder des Linksbündnisses NUPES, v.l.n.r.: Aurelie Trouve, Rachel Keke, Danielle Simonnet
Sieht man auch nicht alle Tage: glückliche Linke. Die Mitglieder des Linksbündnisses NUPES, v.l.n.r.: Aurelie Trouve, Rachel Keke, Danielle Simonnet

Foto: IP3press/IMAGO

Sie hat den Streik der afrikanischen Zimmerfrauen eines Pariser Hotels angeführt, 22 Monate lang. Am Ende konnten sie den Hotelkonzern tanzend und singend in die Knie zwingen. Nun rückt Zimmerfrau Rachel Kéké in die Nationalversammlung ein, als Abgeordnete der Linksunion Nupes. Wortgewaltig will sie den Rassisten im Parlament Zunder geben: „Ich bin die Stimme derer ohne Stimme.“

Die Kékés dieser Welt sind alles, was Präsident Emmanuel Macron verachtet – und fürchtet. Am 19. Juni hat er fast die Hälfte seiner Abgeordneten verloren. Das Debakel der Parlamentswahl hat ihn kalt erwischt, denn er hatte auf den Präsidentenbonus gesetzt. Passé. Künftig muss der Staatschef für seine neoliberalen Reformen mindestens 43 Stimmen bei anderen Parteien finden. Sein Parlamentspräsident und sein Fraktionschef sind gefallen, zusammen mit drei Ministerinnen, und die eiserne Regierungschefin Élisabeth Borne wäre um ein Haar über einen 22-jährigen Newcomer von Nupes gestolpert. Vorbei die monarchische Herrlichkeit mit einem Parlament voller Claqueure. Jetzt wird dort wieder debattiert und Politik gemacht. So hatte es Macrons Gegenspieler Jean-Luc Mélenchon von der Linksallianz versprochen – dies zumindest hat Nupes vollbracht.

Kühlen Kopfes lässt sich der Wahlausgang freilich auch anders lesen. Macron wusste, dass er gegen die Mehrheit der Bevölkerung regiert. Die tat ihm das auch regelmäßig mit Gelben Westen und anderen Protesten kund. Macron kümmerte es kaum. Zu seinem Selbstverständnis gehörte es, den einzigen Weg zu kennen, und der geht über die autoritäre Verschärfung des neoliberalen Kapitalismus. Notfalls musste das Volk zu seinem Unglück gezwungen werden.

Für Emmanuel Macron sitzt der Feind links

Also war für ihn klar, wo der Feind sitzt: links. Die neoliberal gewendeten Sozialdemokraten hatte er leicht in seinen rechten Machtblock integriert. Aber mit den sozialen Bewegungen der Klimajugend und Bürgerrechtler, dazu mit der Partei La France Insoumise (LFI) von Mélenchon erwuchs ihm zunehmender Widerstand. Vor wenigen Wochen sammelten sich die Grünen, die Rest-Sozialisten, die KP und diverse soziale Bewegungen um die LFI zur Nupes. Mit der hohen Ambition, eine Mehrheit zu gewinnen und Mélenchon als Premier zu installieren.

Die Nupes gewann, allein LFI verfünffachte die Zahl ihrer Sitze, doch blieb das Bündnis mit knapp 150 Mandaten weit von der Mehrheit (289) entfernt. Macron konnte, mitten im Debakel, einen Systembruch verhindern. Das schaffte er mit einer Doppelstrategie. Zum einen anästhesierte er die Demokratie: kein Programm, keine Debatten, die Negierung aller Probleme – egal, ob Klimawandel oder Inflation –, in einem dichten Nebel von Ersatzhandlungen und Newspeak. Resultat: 60 Prozent der Wahlberechtigten haben sich enthalten. Die Nupes-Protagonistin Aurélie Trouvé gab sich überzeugt: „Mit einer höheren Wahlbeteiligung hätten wir heute die Mehrheit.“ In ihrem Departement Seine/Saint-Denis in der Banlieue von Paris schaffte sie die Mobilisierung und gewann zwölf der zwölf Sitze.

Zum anderen förderte und banalisierte Macron seit fünf Jahren systematisch die Rechtsextremen vom Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen. Das perverse Resultat: Die Rechtsnationalisten können nun mit 89 Abgeordneten ihre rassistische und antisoziale Agitation übers Parlament unters Volk bringen. „Ein politisches Erdbeben“, kommentieren Historiker besorgt. Es bringt diesem Lager viel Geld, Personal, Rechte, Blockademöglichkeiten und Medienpräsenz. Am meisten davon überrascht war Le Pen selbst. Sie war den Wahlkampf nur lau angegangen, nun will sie das Ergebnis zum Sprungbrett für die Machtergreifung „nach Macron“ machen.

Gleitet der autoritäre Neoliberalismus endgültig ab?

Der Präsident und seine Entourage konzentrierten alle Angriffe auf die Linke. Harmlose Nupes-Sozialisten wurden dabei zu „anarchistischen Linksextremen“, die nur den Untergang Frankreichs im Sinne führten. Kurz vor der Wahl versuchte sich Macron mit einer Inszenierung, im Zug unterwegs in Richtung Ukraine zum Weltenretten. Nur eine starke Mehrheit für ihn, ließ er wissen, könne ein Chaos wie in der Ukraine verhindern. Mit anderen Worten: Die Linken von Nupes sind Feinde der Republik.

War es nur zynisches Wahlkalkül? Oder gleitet hier der autoritäre Neoliberalismus gerade endgültig ab? Immerhin streckt Macrons Justizminister schon einmal die Hände Richtung Le Pen aus.

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