Pastis unter Platanen, ein paar Oliven, Marseille im Spätsommer. Am Nebentisch wogt der rituelle Apéro-Streit: „Apokalyptisch! Putain, dieser Sommer war die reine Apokalypse!“ – „Glaubst du, es kommt zum Atomkrieg? Warum bloß ...“ – „Was kommst du mir mit dem Russen? Auf unseren Feldern verdorren die Ernten, Bauern hängen sich in ihren Scheunen auf, während nebenan die Golfplätze bewässert werden. Und in Paris steigt Macron mit den Faschisten ins Bett. Apokalyptisch, sage ich dir!“ Etliche Pastis und „Putains“ (zu deutsch: Hure) später ist die Krim befreit, tobt in ganz Frankreich der soziale Aufstand, und Marine Le Pen hat das Kommando. Ein scharfes Stimmungsbild. Frankreich hängt rech
echts durch. Ultrarechte „Chronisten“ und „Philosophen“ marodieren auf allen Kanälen. Literaten, die man früher mit Gewinn las, sind zu bluthundigen Nationalisten verkommen. Und mancher Minister tut einiges, um in diesem Pulk zuvorderst dabei zu sein.Republikanischer PersilscheinSchritt um Schritt installiert sich Le Pens ultrarechter Rassemblement National (RN) im Innern der politischen Macht. Früher hieß die Partei Front National, das war eindeutiger. 89 Abgeordnete hat sie in dieser Legislaturperiode, zwei Parlamentsvizepräsidenten. Die RN-Deputierten sitzen im Geheimdienstausschuss, im Haushaltskomitee der Streitkräfte und im Gerichtshof der Republik, der über die Missetaten von Ministern richten darf. Über Nacht sind Ultras zu Notablen avanciert. „Wir taumeln von Entsetzen zu Entsetzen“, notierte Michaël Foessel, Professor für politische Philosophie in Paris. Zu ihrem republikanischen Persilschein kam Le Pen, ohne ein Komma an ihrem Programm zu ändern. Mit Rassisten, Maskulinisten, Shoa-Leugnern, Islam-Hassern und was sich sonst noch im RN sammelt, kann das Kapital leben. Hauptsache, sie bieten die Hand gegen die linksgrüne Allianz Nupes. Die hat bei der Parlamentswahl mehr Stimmen geholt als der Präsidentenblock. Eine klare Ansage, auch wenn das Wahlsystem der Nupes am Ende lediglich 150 Abgeordnete zuordnete, dem Präsidenten hingegen 245.Nun fache die drängende soziale und ökologische Mehrfachkrise den „gesellschaftlichen Krieg in Frankreich“ an, schreibt der Ökonom und Publizist Romaric Godin. In tumultartigen Sonder- und Nachtsitzungen bis in den August hinein brachte Präsident Emmanuel Macron das neue Parlament auf Linie. Mal Hand in Hand mit den rechten Republikanern (Abwehr einer Sondersteuer auf Krisengewinne), dann im Bündnis mit den Rechtsextremen. Es waren nur Probeläufe. Für den Herbst hat der Präsident die Rentenreform und das Ende der 35-Stunden-Woche angekündigt, dazu Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger und – als Geschenk für Le Pen – eine große Immigrationsdebatte. Das ultrarechte Lager tut sich mit Eifer gegen alles Soziale und Ökologische hervor. Le Pen ist überzeugt, dass „die Stunde bald kommt, da wir die [bürgerliche] Rechte ablösen und unser Programm durchsetzen können“.Nach der Parlamentswahl vom Juni hatte die Journalistin Ellen Salvi einen gut belegten Artikel in Mediapart mit der Zeile überschrieben: „Emmanuel Macron, der nützliche Idiot der Rechtsextremen“. Das klang grob, zumindest für ausländische Ohren. Macron wird vielerorts noch immer als Demokrat und smarter Europäer wahrgenommen. Trotz eines autoritären Regiments – man denke an die Niederschlagung der „Gelbwesten“ – sieht man in ihm einen Zentristen. Doch Ellen Salvi zeigt, dass dieser Präsident die extreme Rechte gezielt entfesselt hat. Soziologen wie Ugo Palheta und Historikerinnen wie Ludivine Bantigny bezeichnen die „Möglichkeit des Faschismus“ (Palheta) in Frankreich deshalb als plausibel.Piries RezeptbuchMag sein, dass diese Autoren übersehen, dass sich nach fünf Jahren macronistischer Zumutungen die Indizien für eine andere Lesart erhärten: Frankreich wurde unter Macron das Laboratorium einer neuen Rechten, einer „Vierten Rechten“ – nach Konservatismus, Liberalismus und Faschismus. Diese begnügt sich nicht mit der illiberalen Wendung der Demokratie oder einer offen autoritären Herrschaft. Als militanter Arm des Neoliberalismus zielt sie darauf, die bürgerliche Demokratie mit ihren Grundrechten, sozialen Absicherungen und öffentlichen Diensten durch eine „Privatregierung des Kapitals“ abzulösen, wie der französische Philosoph Grégoire Chamayou konstatiert.Privatregierung? Bevor Emmanuel Macron 2012, erst 34-jährig, zum Stab des sozialistischen Präsidenten François Hollande stieß und rasch zum Wirtschaftsminister aufstieg, hatte er bei der Bank Rothschild seine erste Million verdient und in der Kommission Attali mitgewirkt, die für Hollandes Vorgänger Nicolas Sarkozy eine neoliberale Strategie entwarf. Dort saßen fast ausschließlich Konzernchefs und neoliberale Ökonomen. Macron füllte sein Adressbuch und beobachtete, wie Präsident Sarkozy scheiterte.In Frankreich hätten Protestbewegungen die neoliberale Zerstörung immer wieder gebremst, so der Publizist Romaric Godin. Wofür Macron seine Landsleute als „verstockte Gallier“ und „reformrenitent“ gescholten hat. Frankreich sei nicht reformierbar, verkündete er, also nicht regierbar. Diesen Widerstand zu brechen, den neoliberalen Umbau des Landes zu radikalisieren, erhob Macron zu seiner Mission. Sein Wahlkampfbuch nannte er schlicht Revolution. Meine Konterrevolution wäre ehrlicher gewesen. Unter Bergen gebildeter Geschwätzigkeit lässt sich eine Blaupause in bisher über 700 Erlassen ablesen. Knapp gefasst: Nur unter dem neoliberalen Pflug kann Frankreich gerettet werden. Alles muss weg – oder zumindest gründlich umfunktioniert werden: die Parteien, die politischen Debatten – also der politische Raum – und die sozialen Sicherheiten. Auf dem Prüfstand stehen der öffentliche Dienst, die Gewerkschaften, die kritischen Medien. Kurzum: Der Staat muss neu formatiert werden.Der Neoliberalismus war stets viel weniger eine Wirtschaftslehre als eine Herrschaftstheorie. In ihr ist die Antwort des Kapitals auf die Tatsache formuliert, dass Demokratie und Kapitalismus unvereinbar sind. Diese Unverträglichkeit erklären die Neoliberalen zum Problem der (nicht regierbaren) Demokratie, während sie tatsächlich die Frage bewegt: Wie können die Demokratien so weit „entdemokratisiert“ werden, dass es möglich wird, den Staat ganz in den Dienst des Kapitals zu stellen und die Unternehmen jeder demokratischen Einmischung zu entziehen? Da wird der lange Atem Carl Schmitts spürbar. Im November 1932 sprach der spätere Kronjurist des NS-Regimes vor dem Unternehmerverband Langnam-Verein zum Thema „Starker Staat und gesunde Wirtschaft“. Schmitt propagierte einen „totalitären Staat“ mit „ungeahnten neuen Machtmitteln“, der in Abkehr vom alten Liberalismus eines „Laisser-faire“ den Klassenkampf mit allen polizeilich-militärischen und propagandistischen Mitteln unterdrücke und die „Selbstregierung“ des Kapitals garantiere. Nur ein starker Staat könne „entpolitisieren“, also die Arbeitenden daran hindern, sich in ihre eigenen Belange einzumischen.Nach dem Krieg kam der neoliberale Ideologe Friedrich Hayek auf diese „Selbstregierung der Wirtschaft“ zurück. Faschismus hielt er für den falschen Weg – zumindest in Europa. Die Demokratie könne leichter entwaffnet werden. Freie Wahlen seien durchaus möglich, wenn der Handlungsspielraum von Regierung und Parlament so limitiert werde, dass sie nicht gegen „die natürliche Ordnung der Ungleichheit“ verstießen. Hayek nannte das „Entthronung der Politik in einer beschränkten Demokratie“. Geschieht dies, werden Politik und Staat gleichsam entkoppelt, die Politik wird leeres Ritual, die Gesellschaft abgeschafft.In Hayeks Surrogat-Demokratie ist der französische Präsident ein Meister. Um seine gezielte Verweigerung einer ökologischen Politik zu tarnen, rief Macron 2020 150 Bürgerinnen und Bürger zu einer „Konvention“. Nach acht Monaten harter Arbeit präsentierten sie am Ende 149 Maßnahmen. Er werde sie „ungefiltert“ ins Parlament bringen, hatte Macron versprochen – 90 Prozent der Vorschläge jedoch wurden gleich gekübelt.Der Präsident nutzt die Herrschafts- und Managementtechniken, wie sie in neoliberalen Thinktanks seit Hayek erarbeitet wurden. Wie lässt sich der Widerstand gegen Privatisierungsprogramme abwenden? Dagegen entwickelten der Brite Madsen Pirie und seine St.-James-Gruppe, die etliche Regierungen beriet, die „Mikropolitik“. Deren Maxime: Mit geeigneten Techniken des Marketings und politischen Engineerings, die alle auf einen suggerierten egoistischen Teilnutzen bauen, werden die Menschen dazu gebracht, allein und gegen ihre wirklichen Interessen zu handeln. Dafür stellte Pirie in einem Rezeptbuch 22 Methoden bereit.Diese Wende im politischen und betrieblichen Management des Kapitalismus hat Grégoire Chamayou in seiner Studie Die Unregierbarkeit der Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus scharf ausgeleuchtet. Seine These: „Die neoliberale Mikropolitik zielt darauf ab, Wirkungen auf Bewusstsein und Handeln zu entfalten. Denkfähigkeiten und Handlungsweisen radikal zu verändern.“Macron weiß das. Er scheut keine Repression, und seinem Innenminister Gérald Darmanin ist jeder rassistische Irrsinn zuzutrauen. Dennoch darf man wetten, dass der Präsident mit einer gewissen Verachtung auf die von ihm instrumentalisierten Rechtsaußen schaut. Liest man die Geschichte der Menschheit als Ringen zwischen Emanzipation und Herrschaft, dann ist die „Vierte Rechte“ der Versuch, nicht bloß die Herrschaft des Kapitals zu sichern, sondern die Möglichkeit der Emanzipation selbst aus unserem Streben zu tilgen. Darin liegt ihre Radikalität. Wir sollen die „freiwillige“ Selbstunterwerfung dauerhaft verinnerlichen, als atomisierte Einzelwesen in einer Masse ohne Gesellschaft. Dies kommt einer anthropologischen Verstümmelung gleich. Macron braucht keinen Faschismus. Er ist schon eine Epoche weiter.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.