Proteste in Frankreich: Längst geht es um mehr als eine bloße Rentenreform

Kampfansage Jetzt kommt es erstmals zu massiven Streiks. Die Gewerkschaften wollen Konzerne treffen, um damit die Macron-Regierung zum Einlenken zu zwingen. Das sollte auch in Deutschland Schule machen
Ausgabe 10/2023
Proteste in Paris
Proteste in Paris

Foto: Christophe Archambault/AFP/Getty Images

Die Apokalypse nach Olivier Véran beginnt am 7. März. Denn seit mehr als 30 Tagen habe es nicht mehr geregnet, sagt Frankreichs Regierungssprecher. Legten die Gewerkschaften nun das Land mit einem Streik gegen die Rentenreform lahm, so Véran, drohe „eine ökologische, landwirtschaftliche, medizinische, gar humanitäre Katastrophe“. Die Gesundheit „unserer Kinder“ stehe auf dem Spiel, in einem Moment, da eine Impfkampagne „den Gebärmutterhals-Krebs ausrotten könnte“. Frankreich verpasse „den Zug der Zukunft“, weiß der Mann, der auch als Minister für demokratische Erneuerung firmiert.

„Es könnte auch Frösche regnen, Herr Minister“, mokiert sich daraufhin der Chef der Kadergewerkschaft CFE-CGC. Und Laurent Berger, der Kopf des reformistischen Gewerkschaftsbundes CFDT, twittert: „Die Gewerkschaften trifft also die Schuld an der Trockenheit? Warum nicht an der Niederlage bei der Fußball-WM? Ihre Versuche, eine nie gekannte Mobilisierung zu diskreditieren, sind grotesk.“ Doch Vérans Vision ist kein äthylischer Aussetzer, sie wird auf dem offiziellen Youtube-Kanal des Élysée-Palasts verbreitet. Sie verrät, wie wenig Präsident Emmanuel Macron vom Verstand seiner Untertanen hält, die seit zwei Monaten zu Millionen gegen ein angehobenes Renteneintrittsalter auf die Straße gehen. Sie spiegelt aber auch die Nervosität der Macronisten, die sich in der Minderheit wissen. Und sie deutet die Strategie Macrons an, eine sich verschlechternde Altersvorsorge mit einer Eskalation zu erzwingen. Innenminister Gérald Darmanin hat dafür ein Wort: „bordellisieren“.

Es sind derzeit explosive Tage. Bereits am 3. März haben Techniker die Leistung in mehreren französischen Atomkraftwerken zurückgefahren – „nur ein Probegalopp“. Die acht großen Gewerkschaftsverbände fanden sich zu einer „Intersyndicale“ in der Bergarbeiterstadt La Ricamarie ein, wo 1869 zwölf streikende Kumpel von der „Truppe“ erschossen worden waren. Die Koalition beschloss, „den Druck eine Stufe zu erhöhen“. „Wir handeln geeint“, so CGT-Boss Philippe Martinez. Sein Kollege von der Gewerkschaft Force Ouvrière (FO) machte klar: „Am 7. März steht das Land still!“

Eine andere Wahl blieb ihnen kaum, weil sie wissen, dass Macron niemals verhandelt. Seine „Konsultationen“ sind leere Rituale, detaillierte Gegenvorschläge hat er ignoriert, die riesigen Demonstrationen der vergangenen Wochen mit Verachtung gestraft. Die „Debatte“ in der Nationalversammlung war pures Schmierentheater: Arbeitsminister Olivier Dussopt löste Kreuzworträtsel, und als er sich in den eigenen gefälschten Zahlen verhedderte, war seine Auskunft: „Ich bin hier keine Rechenschaft schuldig.“

Den Konzernen schaden

​Was in Frankreich geschieht, misst sich an der Verbitterung eines Laurent Berger. Der CFDT-Chef ist ein Gewerkschafter des Arbeitsfriedens, zu fast jedem Kompromiss bereit. Heute aber reckt Berger, von Macron enttäuscht, an der Seite der CGT die Faust. Er hat verstanden, dass der Präsident sich erst bewegt, wenn ihn dessen Freunde vom Kapital dazu nötigen. Also müssen die Gewerkschaften zeigen, dass sie den Konzernen mit Kampfmaßnahmen schaden können.

Zunächst waren es am 7. März eintägige Streiks mit der Option zur Verlängerung. In den fliegenden Streikkomitees, die im ganzen Land mobilisieren, werden die Erfahrungen von 1995 intensiv diskutiert. Damals war ein 24-Stunden-Streik gegen die Sozialreformen des gaullistischen Premiers Alain Juppé vorgesehen – daraus wurden drei Wochen. Am Ende war die Regierung Juppé zermürbt und fiel.

Nun will die „Intersyndicale“ über den weiteren Gang der Ereignisse entscheiden. Längst geht es um mehr als die bloße Rentenreform. Macron hat dem Kapital versprochen, die Revolte niederzuschlagen. Fällt die künftige Mobilisierung verhalten aus, hätte der Präsident freie Bahn für den weiteren Sozialabbau. Darum drängen diverse Branchengewerkschaften, etwa im Energiesektor, darauf, den Konflikt zu verschärfen – bis hin zur „Übernahme des Produktionsapparats“, wie es in einem Flugblatt der Gewerkschaft SUD heißt – und einen Schulterschluss mit der Linken zu suchen.

Dies wäre keine Apokalypse für Frankreich. Für Macron schon.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Kommentarfunktion deaktiviert

Die Kommentarfunktion wurde für diesen Beitrag deaktiviert. Deshalb können Sie das Eingabefeld für Kommentare nicht sehen.