Es liegt eine Stimmung über dem Land wie in einem Film von Marcel Pagnol, die sich etwa so deuten lässt: Haltet mich zurück oder es gibt ein Malheur. Niemand weiß, was in einer Stunde oder morgen geschieht. Die Energieversorger drohen, den Saft abzudrehen, die Gasleute spielen mit dem Gashahn. Sie können das, da sie die Produktionsmittel unter ihre Kontrolle genommen haben. Militante Gewerkschafter etwa des Verbandes SUD drängen auf Generalstreik, denn, so drückt es der Philosoph Frédéric Lordon aus: „Macron versteht nur diese Sprache.“
Ganze neun Stimmen (von notwendigen 287) fehlten den Oppositionsparteien am Montag in der Nationalversammlung, um die Regierung zu stürzen. Zwei Misstrauensanträge waren die Antwort auf die W
auf die Weigerung des Präsidenten, die Legislative über seine Rentenreform abstimmen zu lassen. Macron musste damit rechnen, im Parlament zu scheitern, die Position der rechtskonservativen Les Républicains war zu ambivalent, als dass sie ihm die unerlässlichen Stimmen garantierten. Er wird nun früher oder später Premierministerin Élisabeth Borne opfern. Die Polarisierung in der Legislative blieb eben nicht unberührt von der Tatsache, dass drei Viertel der Franzosen die Erhöhung des Renteneintrittsalters resolut ablehnen. Dies wird seit zwei Monaten regelmäßig in Millionen-Demonstrationen und Streiks kundgetan. Also hantierte Macron mit der Brechstange und mit strikter Demokratieverweigerung. Den Gewerkschaften, die erstmals seit drei Jahrzehnten wieder so geeint handeln, hat er ein Gespräch ausgeschlagen. Jetzt gilt die Reform als „angenommen“, Anfang September wird sie in Kraft treten. Ein schlechter Witz, denn etliche Gegner der Rentenvorlage, darunter sogar einige Macronisten, enthielten sich beim Misstrauensvotum, weil sie Neuwahlen fürchteten, also den Verlust von Sitz, Privilegien und einer stattlichen Parlamentarierrente.Eigentlich müsste das Auswärtige Amt in Berlin dringend eine Reisewarnung für Paris aussprechen, denn auf Frankreichs Straßen und Plätzen werden gerade Schädel mit Schlagstöcken bearbeitet, Menschen mit Reizgas traktiert und Passanten zusammengeschlagen. Der Staatschef hat 61 Kompanien der Sicherheitspolizei CRS und noch rustikalere Einheiten wie die berüchtigten Brav-M (auf Trial-Motorrädern) von der Leine gelassen. Sie sollen jeden Widerstand brechen. Die übliche Taktik der CRS besteht in Einkesselungen, dann Prügel, schließlich Massenverhaftungen. Den meisten Festgenommenen kann trotz Kameraüberwachung nichts Strafbares vorgeworfen werden, aber sie werden eingeschüchtert, weil erkennungsdienstlich behandelt. Vier junge Frauen zeigten nach einer Leibesvisitation auf offener Straße dies als sexuellen Übergriff an. In Marseille wurden am 17. März, dem Tag, als Macron das Rentengesetz dekretierte, sechs Gewerkschafter der CGT im Morgengrauen aus dem Bett heraus präventiv verhaftet. Besonders im Visier hat die Polizei Fotografen, Filmcrews, Presseleute generell. Wie reagiert der Präsident auf diese unverkennbare Eskalation? Indem er erklärt: „In Frankreich gibt es keine Polizeigewalt.“Daraufhin kocht der Volkszorn, das ist der Unverfrorenheit denn doch zu viel. Protestmärsche in Paris, Marseille, Brest, Toulouse, Bordeaux oder Nîmes entwickeln sich spontan. In manchen Gegenden wird zur Blockade von Grenzübergängen geschritten. Was die Regierung besonders fürchtet: dass noch mehr Oberschüler und Studenten zur Bewegung stoßen, wenn bereits 50 Gymnasien und zahlreiche Universitäten dicht sind.Es braucht eine RevolutionAls die Polizei im Norden von Paris streikende Müllmänner zur Arbeit zwingen will, eilt denen ein Trupp Bahnarbeiter zu Hilfe. Ohnehin gibt es die übergreifende Solidarität anderer Sektoren, wenn die Belegschaften der Kernkraft- und mancher Wasserwerke die Produktion herunterfahren und einigen macronistischen Politikern „Energie-Genügsamkeit“ verordnen, wie es auf einem Flugblatt heißt. Der Fernbahn- und Nahverkehr stottert, Flüge fallen aus. Schon mussten zu Wochenbeginn erste Departements wegen der Streiks in den Raffinerien den Sprit rationieren.Das Gewerkschaftsbündnis „Intersyndicale“ versucht bei alldem, die Kontrolle über die Bewegung nicht zu verlieren. Was den Syndikaten schwerfällt, weil Macron sie mit seiner Gesprächsverweigerung der Glaubwürdigkeit ihres Versprechens beraubt hat, einen Kompromiss aushandeln zu können. Händeringend appelliert Laurent Berger als Boss der Gewerkschaftszentrale CFDT an den Präsidenten, er möge darauf verzichten, die Reform in Kraft zu setzen. Er könne sonst für nichts garantieren, wenn es am 23. März den nächsten Aktionstag gibt. Mit der Umgehung des Parlaments hat der Präsident die Latte hoch gehängt. Im Kern lautet die Botschaft: Es braucht mindestens eine Revolution, um mich zu stoppen. Viele Franzosen sind versucht, ihn beim Wort zu nehmen.