Großer Blitz, viele sofort tot

Hitlers Bombe Die Rekonstruktion eines vorhersehbaren medialen GAU und was hinter dem thüringischen Los Alamos steckt

Am 3. März 1945 wurde gegen 21.20 Uhr im thüringischen Ohrdruf ein Kernwaffentest durchgeführt. Dabei kamen Hunderte von KZ-Häftlingen ums Leben, die Teil des mörderischen Versuchsaufbaus waren. Von einem Sterbenden sind die Worte "großer Blitz - Feuer, viele sofort tot, von der Erde weg, einfach nicht mehr da" überliefert. Die Bewohner des nahegelegenen Ortes klagten in der Folge über Nasenbluten und Übelkeit. Neun Tage später kam es zu einem zweiten Test.

In diesen Behauptungen kulminiert Rainer Karlschs Buch Hitlers Bombe. Der Berliner Zeithistoriker hat unter anderem sowjetische Geheimdienstberichte vom Frühjahr 1945 und viele der erbeuteten Unterlagen deutscher Forscher und Militärs, die mit Kriegsende in die UdSSR gebracht wurden, aufgespürt. Zusätzlich zu den neuen Quellenbelegen präsentiert Karlsch Laboruntersuchungen von Radiochemikern, die in Ohrdruf und auch in Rügen, wo bereits im Oktober 1944 ein erster Test stattgefunden haben soll, im Erdreich fündig wurden. Die Werte von Cäsium 137 etwa lagen weit über dem Durchschnittswert. Karlsch will somit die gängige Forschungsmeinung, wonach das NS-Regime bei der Entwicklung von Atomwaffen kläglich scheiterte, in Frage stellen. Wenn das so einfach wäre.

Die Worte "Hitler" und "(Atom)Bombe" ergeben gemeinsam so etwas wie einen medialen GAU. Spiegel online zitierte den Wissenschaftshistoriker Armin Herrmann, der bereits vor der Lektüre des Buches wusste, dass Karlschs Thesen ein "totaler Schmarren" seien. Die Süddeutsche Zeitung verunglimpfte Karlsch als "dubiosen Buchautor", die Zeit diskreditierte die Radiochemiker, auf die sich Karlsch berief, der Berliner Tagesspiegel fand zu einer einzelnen Aussage des Buches eine abweichende Expertenmeinung und glaubte somit den Autor widerlegt zu haben, und die Welt erklärte "Hitlers Bombe" als "geplatzt". Der Plot für das mediale Scherbengericht war schon vor der Publikation des Buches am 14. März geschrieben: Autor vom eigenen Thema geblendet, umsatzgetriebener Verlag behauptet eine Sensation, kritische Journalisten decken auf. So einfach ist das.

Viel Anspielraum, aber doch ...

Nein, ganz könne er das mediale Echo nicht verstehen, sagt Karlsch. Es habe eine falsche Erwartungshaltung gegeben: "Jetzt kommt er doch nicht mit der großen Bombe, also ist das alles nichts." Aber müssen sich er und die DVA da nicht an die eigene Nase greifen? Denn es war ja gerade das Verlagsprospekt, wonach die Deutschen beinahe "den Wettlauf um die erste einsatzfähige Atomwaffe" gewonnen hätten, das die Pfeile der Kritiker auf sich gezogen hatte. "Ja", räumt Karlsch ein, "das hätte man schon ein Stück weit dezenter machen können." Aber es sei nichts Falsches drin gestanden, insistiert er. Und wie ist das mit dem Titel? "Ich finde daran nichts Anstößiges. Irreführend wäre ein Titel wie ›Hitlers Atombombe‹ gewesen", verteidigt sich Karlsch, "›Hitlers Bombe‹ lässt ja Spielraum." Aber auch Anspielungsraum. Ja aber was sei daran verkehrt? "Ein Titel soll ja auch Aufmerksamkeit erregen, damit man sich überhaupt mit dem Buch beschäftigt. Was hätte ich denn sollst schreiben sollen? Tests einer subkritischen Anordnung in Thüringen?"

Auf die Frage, warum das Buch ausgerechnet jetzt erscheinen musste, wo doch mögliche Messungen noch ausstehen, hält er entgegen, dass er vier Jahre lang an diesem privat finanzierten Projekt gearbeitet habe und nicht länger warten konnte. Außerdem habe er keinerlei Einfluss darauf, dass und wann diese Messungen durchgeführt werden. "Ich kann nicht sagen: Lieber Präsident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, machen Sie dafür mal 100.000 Euro locker." Gerade der immensen Kosten wegen sei ein Einzelner damit an der Grenze. Die auch andernorts in Thüringen vergleichbar hohen Cäsiumwerte allerdings hält Karlsch auch nicht für einen Beweis, sondern für ein Indiz. Doch davon gebe es jede Menge. "Man kann das alles als Zufall abtun. Man kann die Zeitzeugen als Schwindler und die Dokumente als gefälscht hinstellen. Dann kann ich einpacken."

... "nur" eine taktische Kernwaffe

Muss er nicht. Am vergangenen Wochenende diskutierte Rainer Karlsch seine Thesen auf einer Fachtagung in Wien. Die versammelten Zeithistoriker und Physiker meinten es besser mit ihm als die Journalisten: Frontalangriffe blieben aus, die Kritik beschränkte sich meist auf die semantische Ebene. Karlsch hält die Begriffe Atom- und Kernwaffe im Grunde für austauschbar. "Jede Kernenergiefreisetzung, sei es durch Fusion oder Spaltung, ist eine unkontrollierte atomare Reaktion. Insofern ist es eine Atombombe, die die Deutschen getestet haben." Für Mark Walker, einem ausgewiesenen Kenner der deutschen Nuklearforschung im "Dritten Reich", ist der Begriff "Atomwaffe" hingegen irreführend. Der sei nun einmal durch Hiroshima historisch besetzt. Aber das in Thüringen im März 1945 ein Kernwaffenversuch stattgefunden habe, steht für den US-Historiker außer Frage. Offen sei, ob dieser auch gelang.

Karlsch sollte sich Walkers Differenzierung zu eigen machen, denn die Assoziationen, die mit dem Begriff "Atombombe" aufgerufen werden, sind stärker als die zahlreichen Ausführungen des Buches, die klar stellen, dass die in Thüringen getesteten Waffen nicht einmal annähernd die Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe hatten. Vielmehr handelte es sich um wesentlich kleinere, heute würde man sagen taktische Kernwaffen. Es gelang den deutschen Forschern buchstäblich mangels (Uran-) Masse nicht, eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion in Gang zu setzen. Die erhoffte Wunderwaffe, von der Hitler 1944/45 immer wieder fantasierte, gab es nicht. Selbst wenn die Bomben noch zum Einsatz gekommen wären, hätten sie den Kriegsverlauf nicht mehr beeinflusst.

Es gab kein deutsches Manhattan-Projekt, kein thüringisches Los Alamos, kein staatlich gefördertes Mega-Unternehmen, das sich allein und über Jahre hinweg dem Bau der Atombombe gewidmet hätte, keinen Forschervisionär wie Robert Oppenheimer, der in der Lage war, theoretische und Experimentalphysiker vor einen gemeinsamen Karren zu spannen. Die deutsche Atomforschung war zersplittert, auch Marine, Heer und Luftwaffe, ja selbst die Reichspost hatten eigene Forschungsabteilungen. Erschwerend kamen der Mangel an angereichertem Uran, schwerem Wasser sowie die Bombardierung der Rüstungsanlagen durch die Alliierten hinzu.

Ein Lesespaß ist "Hitlers Bombe" übrigens nicht. Der quellenbesessene Karlsch bombardiert mit Namen deutscher Forscher, mit Konferenzen und Geheimtreffen, Memoranden, Kalendereinträgen, Versuchsreihen und waffentechnischen Erörterungen. Er gewichtet und strukturiert zu wenig, bald verliert man den Überblick, wer woran forscht und mit wem über Kreuz liegt. Die kritische Masse für eine nun anstehende wissenschaftliche Diskussion ist freilich vorhanden. Zumal, da das Rauschen im deutschen Blätterwald nun bald abgeklungen sein wird.

Zum Weiterlesen: Rainer Karlsch: Hitlers Bombe. Die geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche. 417 S., München 2005.


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