Als Jim, Lukas und die Lokomotive Emma in den Tunnel einfahren, der nach Kummerland führt, quellen daraus schwarze Rauchschwaden. Über dem Eingang prangt die Warnung: „!Achtung! Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten“.
Der Schutzumschlag von „Darwins Jim Knopf“ zeigt genau dieses Bild aus Michael Endes erstem Kinderbuch, das 1960 erschien, 15 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches.
Bei der Lektüre des schmalen Bandes fragt man sich schon recht bald, wieso erst 49 Jahre später Julia Voss darauf gekommen ist, dass Michael Ende mit Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer einen Gegenmythos zur NS-Ideologie schaffen wollte.
Heute wirkt es nur mehr bizarr, dass man Ende Anfang der sechziger Jahre „Fluchtlit
e „Fluchtliteratur“ vorgeworfen hat. Die Kritiker und anscheinend auch Millionen von Lesern übersahen angesichts des märchenhaften Personal, das von einer wandlungsfähigen Lokomotive über Glücksdrachen bis zu Scheinriesen reichte, die prominent platzierten Hinweise auf den NS-Rassenwahn und die rauchenden Schlote von Auschwitz.Wobei Julia Voss, Feuilletonredakteurin der FAZ und ausgewiesene Darwin-Kennerin, zunächst auffiel, dass Jim Knopf natürlich Jemmy Button ist. So nannten die englischen Seeleute jenen Jungen, den sie 1830 aus Feuerland entführten.Nach einem Jahr in England brachte die Beagle Jemmy wieder nach Südamerika zurück. Mit an Bord war der junge Charles Darwin um seine Weltreise anzutreten. Jemmy Button wurde Jahrzehnte später eines Massakers an Missionaren verdächtigt. Endes Jim Knopf wird per Paket auf die Insel Lummerland verschickt. Voss erkennt darin ein auf das Wesentliche reduzierte England des 19. Jahrhunderts, mit einer Bahnlinie, einer Kauffrau und einem König.Missverstandener DarwinFür Ende war Darwin ein Apostel, der das Recht der Stärkeren in Form der „Natürlichen Auslese“ verkündete, die zum Rassismus führe. Ende hat Darwin (miss-)verstanden, dies hat aber nicht zuletzt mit den Besonderheiten der Darwinrezeption in Deutschland zu tun, die auf das Prinzip des „struggle for life“ abhob, dessen deutsche Übersetzung „Kampf ums Dasein“ zu martialisch ausfiel.Die Nazis destillierten daraus ihre pseudowissenschaftliche „Rassenkunde“, die deutschen Kindern zwischen 1933 und 1945 im Biologieunterricht eingetrichtert wurde. Auf der Schulbank saß damals auch Michael Ende, Jahrgang 1929, Sohn eines surrealistischen Malers, der in der NS-Zeit Malverbot erhielt.Der Autor von Jim Knopf entwickelte ein sehr genaues Gespür dafür wie die Nazis mit einer kruden Mischung aus uminterpretiertem Darwinismus und germanischer Mythologie die Köpfe der Kleinen zu indoktrinieren suchten. Siegfried und die Nibelungen feierten Urstände in den Kinderbüchern der NS-Zeit.Jim Knopf, so Voss’ überzeugend argumentierte Lektüre, ist ein Gegenmythos. Ende macht aus den heldenhaften Drachentötern bösartige Drachen, allen voran die Lehrerin Frau Mahlzahn, die in der Schule von Kummerland die Kinder terrorisiert. Endes Helden überwinden Frau Mahlzahn, töten sie aber nicht, sondern führen sie gefesselt ab. Sie verwandelt sich schließlich in einen goldenen Drachen der Weisheit. Es sind die Mischwesen wie der Halbdrache Nepomuk, die triumphieren, und der farbige Junge Jim Knopf entpuppt sich als Königssohn.Tolerante GegenweltSein Reich Jimbala ist nichts anderes als Atlantis. Dieser sagenumwobene Kontintent, für die Nazis mythischer Ursprungsort der arischen Rasse, wird bei Ende umkodiert. Ende schaffe eine “Gegenwelt zur nationalsozialistischen Ideologie”. Voss: „Nicht die blonden, stahlharten Menschen mit dem reinen Blut bewohnen das aufgetauchte Inselreich, sondern Kinder und Vögel.“ Der gute Ausgang von Jim Knopf lese sich vor dem Hintergrund Nachkriegsdeutschland „wie die Parabel einer gelungenen ‚Reeducation’“.Endes Gegenwelt ist tolerant und vielfältig. Misstrauisch gegenüber vermeintlich unwandelbaren Naturgesetzen wandte er sich der Anthroposophie Rudolf Steiners zu. Dabei war der Kinderbuchautor Ende weniger weit weg vom Naturforscher Darwin als er selbst erkannte. Für Voss ist es kein Zufall, dass schon im 19. Jahrhundert die Evolutionstheorie bei Kindern – anders als bei den sich streitenden Erwachsenen – sehr schnell durchschlagenden Erfolg hatte.Die Abenteuer der Steinzeitmenschen, grölende Mammuts und die riesenhaften Dinosaurier begeisterten die Kleinen. Vor allem aber die von Darwin postulierte Wandelbarkeit der Spezies ließ sich bestens mit bestehenden Märchen, mit Zauber und Verwandlung verknüpfen.Darwins Jim Knopf merkt man gelegentlich an, dass es etwas hurtig geschrieben ist, an sich ist es ein langer Essay. An den originellen Einsichten ändert dies nichts, Julia Voss ist ein würdiger Beitrag zum Darwinjahr gelungen.