Kontrovers

NaturE oder Nurture Eine für tot erklärte Debatte

Im 20. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der Verhaltensforschung, vor allem aber der Genetik, wurde die biologische Basis aller Lebewesen betont. Demgegenüber verwiesen Ethnologen, Soziologen, aber auch der Behaviorismus in der Psychologie auf die prägenden Kräfte der Gesellschaft beziehungsweise die Lernfähigkeit des Menschen. In den siebziger Jahren erreichte diese Debatte mit dem Aufkommen des Neodarwinismus ihren Höhepunkt. Zwei Werke, E.O. Wilsons Sociobiology (1975) und Richard Dawkins Egoistisches Gen (1976), erwiesen sich dabei als außerordentlich wirkungsmächtig und polarisierend. Mit Begriffsknüppeln wie "Reduktionismus" und "Determinismus" wurde heftig auf Wilson und Dawkin eingeprügelt.

Zum Kritiker dieser Kritiker hat sich nun Steven Pinker in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch Das unbeschriebene Blatt aufgeschwungen. Mit missionarischem Eifer macht der US-Psychologe unzählige Ethnologen, Sozialwissenschaftler und Feministinnen namhaft, die seiner Ansicht nach den Menschen nach wie vor als "unbeschriebenes Blatt" oder als "edlen Wilden" charakterisieren. Biologen wie Stephen Jay Gould, aber auch Politiker verschiedenster Lager werden als Leugner der menschlichen (also biologischen) Natur gebrandmarkt, als im besten Falle wohlmeinende, letztlich aber realitätsferne Idealisten.

Pinker, der Bestsellerautor und Medienstar mit der sanften Stimme und dem sympathischen Wuschelkopf, verfasst einen 700-seitigen Steckbrief - und baut doch nur Strohmänner auf. Ist doch das Pendel längst von der "Umwelt" Richtung "Natur" zurückgeschwungen, nicht zuletzt aufgrund der medialen Dauerberieselung um die Erforschung des menschlichen Genoms und der Identifizierung einzelner Gene, die vermeintlich für Homosexualität oder Schizophrenie verantwortlich sind. Wer glaubt heute noch daran, dass Menschen ganz und gar formbar sind? In der Erziehung oder im Strafvollzug sind die liberalen Konzepte der siebziger Jahre, der antiautoritäre Unterricht oder der Glaube an die Rehabilitierungsfähigkeit von Kriminellen längst auf dem Rückzug.

Warum aber ist diese Debatte nicht totzukriegen und flammt stets aufs Neue auf? Die Frage, was uns Menschen ausmacht, ist kulturell enorm aufgeladen und treibt folglich nicht nur die Wissenschaft um. Weltanschauliche, religiöse und gesellschaftliche Positionen und Wertvorstellungen berufen sich auf die eine oder andere Position oder definieren sich gerade im Gegensatz zu diesen. Nature und Nurture sind zu Etiketten geworden, die sich allzu leicht aufkleben lassen. Diese Verstärkereffekte haben eine tiefe Kluft hinterlassen, die nur mühsam zu kitten ist.

Einen spannenden Syntheseversuch hat nun der britische Wissenschaftsjournalist und Bestsellerautor Matt Ridley unternommen. Sein neues Buch trägt den programmatischen Titel Nature Via Nurture. Kein Gegen-, sondern ein Miteinander wird postuliert, genauer: ein Durcheinander. Ridley stützt sich dabei auf jüngste Forschungen zum Genom. Dass Gene nur dann Proteine produzieren, wenn sie "angeschaltet" sind, also exprimiert werden, ist bekannt. Bahnbrechend sind für Ridley jene neuere Forschungen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie Gene aktiviert und sogar wieder deaktiviert werden. Denn es hat sich gezeigt, dass genetische Einflüsse reversibel sind, Gene also nicht nur ein-, sondern auch wieder ausgeschaltet werden können. Verantwortlich für das An- und auch das Ausschalten der Gene sind winzige Abschnitte auf der DNA, so genannte Promoters. Viele - nicht alle - dieser Promoters reagieren auf Umwelteinflüsse. Gene sind also nicht fixe Determinanten, sondern vielmehr höchst sensibel für Input von außen. Sie erlauben es den Lebewesen flexibel zu reagieren und sind damit perfekte Diener der Erfahrung. So erblinden zum Beispiel Mäuse, die während einer kritischen Phase des Wachstums im Dunkeln gehalten werden. Denn es ist das Licht der Umwelt, dass ein bestimmtes Gen im Gehirn der Maus "anschaltet".

Ende gut, alles gut? Auch wenn noch sehr viele Fragen zum genauen Zusammenspiel von Nature und Nurture offen sind, wird an diesem ganzheitlichen Verständnis wenig zu rütteln sein. Als Denkkategorien, als gegensätzliche Pole, ja als Geruchsmarken werden sich Nature und Nurture aber sicher nicht so schnell verabschieden. So bemerken gleich mehrere Rezensenten von Ridley, die sich eher dem Nurture-Lager zuordnen lassen, dass der ursprünglich eher aus dem Nature-Lager kommende Ridley doch erstaunlich weit auf sie zugekommen sei. Die Genugtuung ist unüberhörbar.

Steven Pinker: Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur. Berlin-Verlag, Berlin 2003 704 S., Euro 26

Matt Ridley: Nature Via Nurture: Genes, Experience and What Makes Us Human. New York 2003, Harper Collins, 320 S., Euro 29,35


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